Erfolg ist attraktiv. Darum ist er einer der grössten Mythen und Illusionen der Unterhaltungsindustrie. Nirgendwo sonst gibt es ein rasanteres und unberechenbareres Hoch und Runter auf der ominösen Erfolgsleiter, nirgendwo sonst werden diese Zuckungen mit einem derart gierigen Blick von der Öffentlichkeit aufgesogen. Gerade das Kino versteht es bestens, seine Anziehungskraft durch die Kreation und Inszenierung der eigenen Erfolgsgeschichte(n) und durch unablässiges Selbstbefeiern immer wieder zu erneuern. Dazu gehören die verschiedensten Formen der Filmwerbung, in der «Erfolg» zu den wichtigsten Verkaufsargumenten zählt, die unzähligen Preisverleihungen und Ehrungen der Branche von «Oscar» bis «Felix» wie auch die Selbstdarstellungen mit Aufstiegs- und Niedergangsdramen aus der Filmwelt: A Star Is Born. Erfolg zieht Erfolg an. Fragt man nach den künstlerischen und kommerziellen Erfolgsmassstäben, die sich hinter dem glamourösen Perpetuum mobile der Erfolgsmaschinerie verbergen, stösst man auf ein starkes Spannungsfeld der Interpretationen. Während sich einerseits der Erfolg im kaum messbaren Bereich kultureller Werte befindet, kann er andererseits konkret quantifizierbar in Publikumszahlen und Einspielergebnissen verortet werden. Es stehen nur schwer fassbare und umstrittene Kriterien wie «künstlerische Qualität» den knallharten Box-Officc-Zahlen gegenüber. Allerdings liegen diese scheinbar unvereinbaren Massstäbe mitunter näher zusammen, als es die für Praxis und Theoriebildung unfruchtbare und realitätsferne Separierung von Kunst und Kommerz suggeriert. Unsere Frage nach dem Erfolg setzt da an, wo das eine das andere nicht ausschliesst, wo das Aufeinandertreffen geradezu nach Reflexionen verlangt. Ein sehr aussagekräftiger Bereich ist hierbei die Filmwerbung: Auch wenn der Film nach neusten Marketingstrategien beworben wird, lässt sich sein Verkauf nicht garantieren. Mit der Filmwerbung verhält es sich immer noch so, wie es der Industrielle Henry Ford ganz allgemein für die Werbung feststellte: «Die Hälfte der Summen, die man für Werbung ausgegeben hat, ist zum Fenster hinausgeworfenes Geld. Man weiss nur nicht, welche Hälfte.» Wie und warum das «Kunstprodukt» Film selbst durch seine spezifische Gestaltungsweise das Publikum auch nach dem Premieren-Wochenende anzieht oder nicht, bleibt nur schwer voraussagbar. Fragen der Wirkungsästhetik entzünden sieh aber nicht nur am Publikumszulauf. Sie müssen auch in verschiedenen anderen Dimensionen ansetzen, in denen Filmerfolge stattfinden. Beispielsweise kann sich ein anfänglich kaum beachteter Film wie Charles Chaplins Modern Times (USA 1936) durch die Filmgeschichtsschreibung und durch Zweit- und Drittverwertung im Fernsehen und auf Video zu einem rundum anerkannten und viel gesehenen Meisterwerk mausern - die Dimension Zeit kann ein äusserst wirkungsvoller Erfolgsfaktor sein. Auch verhältnismässig kleine Zuschauerzahlen können einen relativen Erfolg bedeuten: Je kompromissloser Filme zum persönlichen künstlerischen Ausdruck werden, desto mehr schränkt sich das angesprochene Publikumssegment ein. Wird dieses aber voll ausgeschöpft und das Werk darüber hinaus zum Tagesgespräch oder sogar zum Kultgegenstand einer bestimmten Gruppe, kann von einem veritablen Erfolgsfilm gesprochen werden. Erfolg ist letztlich eine Frage der Perspektive. CINEMA 45 erkundet das variantenreiche Spektrum dieser Perspektiven. Angefangen bei der Filmwerbung, deren Strategien und Wirkungsmacht anhand der amerikanischen Kinogeschichte Vinzenz Hediger und am Beispiel der deutschen Stummfilmreklame Meret Ernst aufzeigen. Weiter diskutiert François Albera das Verhältnis von Qualität und Erfolg und hinterfragt die in der Schweiz neu lancierte Erfolgsabhängige Filmförderung. Der Direktor des Verleihs UIP Schweiz, Max Dietiker, äussert sich in einem Interview mit Meret Ernst zu Fragen des Film-Marketings, und Lilian Räber reflektiert die mitunter kruden Erfolgsgeschichten des Kultfilms. Michel Bodmer beschreibt den Zwang der Quoten im Fernsehbereich. Die jüngsten Erfolgskurven des französischen Films interpretiert Patrick Straumann, und Vera Ansen geht dem Popularitätsrezept der Edgar-Wallace-Filmserie nach. Eine visuelle Umsetzung des Themas hat Tobias Madörin mit seinen Fotografien geschaffen. In der Nocturne untersucht Martin Stingelin das Aufeinandertreffen von Psychoanalyse und Film in Michael Powells Peeping Tom, und die Analyse essayistischer Strukturen in Orson Welles’ Kurzfilm Portrait of Gina stammt von Thomas Tode. Im CH-Fenster berichten die Lehrkräfte Jean-François Blanc, Fosco Du- bini und Bernhard Lchner aus erster Hand von der Ausbildung an Schweizer Filmschulen, ln der Rubrik Filmbrief beschäftigt sich Lydia Papadimitriou mit den goldenen Jahren des griechischen Kinos in den Fünfzigern, und Samuel Ammann erzählt taufrisch von seinen Erfahrungen als Filmschüler. Der Index widmet sich am Schluss von CINEMA 45 einer Auswahl der jüngsten Schweizer Filmproduktion. Für die Redaktion Jan Sahli
CINEMA #45
ERFOLG
EDITORIAL
ESSAY
FILMBRIEF
DAS GRIECHISCHE POPULÄRE KINO: VON DEN FÜNFZIGERJAHREN BIS HEUTE
SELECTION CINEMA
SAMMLERGLÜCK & MEHRWEGFLASCHEN - FLASCHENFISCHER IM DREIECKLAND (ARMIN BIEHLER)
LA BONNE CONDUITE (5 HISTOIRES D'AUTO-ÉCOLE) (JEAN-STÉPHANE BRON)
SPUREN VERSCHWINDEN - NACHTRÄGE INS EUROPÄISCHE GEDÄCHTNIS (WALO DEUBER)
SCHRITTE DER ACHTSAMKEIT - EINE REISE MIT THICH NHAT HANH (THOMAS LÜCHINGER)
GRENZGÄNGE - EINE FILMISCHE RECHERCHE ZUM SONDERBUNDSKRIEG 1847 (EDWIN BEELER, LOUIS NAEF)
PAUN JESTER HA SIAT CRUSTAS (FREMDES BROT HAT SIEBEN KRUSTEN) (CHRISTIAN SCHOCHER)