ANDREAS MOOS

SCHLAGEN UND ABTUN (NORBERT WIEDMER)

SELECTION CINEMA

«Schlagen» und «Abtun» sind zwei Fach­begriffe aus der Welt des Hornussens, eines ur­schweizerischen, bäuerlichen Wettkampfspiels. Ziel dabei ist es, einen Hartgummiball, den Hornuss, möglichst weit ins gegnerische Spiel­feld zu schlagen. Die verteidigende Mannschaft muss das Flugobjekt möglichst früh abfangen oder eben «abtun». Dies wird dadurch bewerk­stelligt, dass Holzbretter, so genannte Schin­deln, in die Flugbahn des Hornuss hochgewor­fen werden. Das archaisch-ländliche Spiel gehört zum bodenständigen Schweizer Brauch­tum und war lange Zeit Inbegriff einer konser­vativen Haltung und patriotischer Wehrhaftig­keit: «Sind sich die Abtuer einig, gelingt es ihnen ohne Mühe, alle Angriffe abzuwehren und das Vaterland sowohl vor dem Eindringen gefähr­licher, fremder Ideen als auch vor allem Schlech­ten und Wertlosen zu schützen», heisst es noch 1968 im Verbandsorgan Hornusser-Zeitung. Der Dokumcntarfilmer Norbert Wicdmer hat während zweier Jahre vier Hornusser mit der Kamera begleitet und sie beim Training und Wettkampf, aber auch in ihrem familiären und beruflichen Alltag gefilmt. Wiedmer zeigt auf, wie sich das ehemals bodenständige Hornussen zum Spitzensport hin entwickelt hat. Es wird trainiert und taktiert, Materialdiskussionen verdrängen die gesellige Vereinsmeierei, und zwischen den Trainingseinheiten greifen die Hornusser zum Handy, um Geschäfte abzu­wickeln. Den finanziellen Anforderungen ihres sportlichen Hobbys versuchen die «Schläger» und «Abtuer» mit Hilfe von Sponsoren beizu­kommen, wodurch der Verlust der ehemals für die Hornusser charakteristischen Unabhängig­keit und Selbstbestimmtheit evident wird: Die rot bemalten Schindeln sind nicht etwa der Farbe der Nationalflagge nachempfunden, son­dern werben - mit leuchtend gelbem M verziert - für den neuen Hauptsponsor McDonald’s. «Wir halten das M in Ehren und machen Re­klame, so gut es geht», geloben die Mannen der Hornussergesellschaft, als ihnen ihr neu bemal­tes Sportgerät übergeben wird.

Schlagen und Abtun skizziert in 52 durch Schwarzblenden getrennte Sequenzen das Bild einer Gesellschaft im Umbruch. Wiedmer be­obachtet die Hornusser genau, teils mit ironi­scher Distanz, aber stets respektvoll. Sein In­teresse gilt dabei nicht in erster Linie dem urchigen Nationalsport, sondern vielmehr der Befindlichkeit des Schweizer Mittellandes zwi­schen Tradition und Moderne. Die Welt der vier Hornusser wird dabei zum eigentlichen Grad­messer des gesellschaftlichen Wandels: In den einzelnen Porträts zeigt sich die Zerrissenheit zwischen Althergebrachtem und Aufbruch, zwischen Selbstsicherheit und Verunsicherung. Dies wird in den stimmungsvollen Bildkompo­sitionen deutlich. Immer wieder sehen wir die spielenden Hornusser vor dem Hintergrund von Industrieanlagen, Sendemasten und Tank­stellen. Auch Felix Hochulis Musik themati­siert die Befindlichkeit einer verunsicherten Schweiz: Alphornklänge werden verzerrt und von Geräuschen und menschlichen Stimmen überlagert - es entsteht eine Klangcollage, in der sich Traditionelles mit Neuem mischt. Im Zusammenspiel von Bild und Ton ergibt sich so ein thematischer Rahmen, der die Porträt­skizzen verbindet; die Szenenfragmente fügen sich zu einem rundum gelungenen Zeitbild schweizerischer Befindlichkeit am Jahrhun­dertende.

Andreas Moos
geb. 1963, Studium der Germanistik, Filmwissenschaft und Anglistik, arbeitet an der Hochschule für Gestaltung und Kunst Luzern, lebt in Zürich. Mitglied der CINEMA-Redaktion seit 1995.
(Stand: 2018)
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