JEN HAAS

SCHRITTE DER ACHTSAMKEIT - EINE REISE MIT THICH NHAT HANH (THOMAS LÜCHINGER)

SELECTION CINEMA

Der vietnamesische zenbuddhistische Mönch Thich Nhat Hanh gehört zu den wichtigsten und bekanntesten Vertretern des Buddhismus im Westen. Auf Grund seiner religiösen Tätig­keit und des politischen Engagements für den Frieden - schon während des Vietnamkriegs trat er auf Reisen durch die USA und Europa für das Ende des Krieges ein, und zahlreiche Mit­glieder seiner Schule für soziale Arbeit wurden angegriffen und umgebracht - wurde Thich Nhat Hanh in seiner Heimat verfolgt und ver­bringt sein Leben seither im westlichen Exil. In Südfrankreich gründete er im kleinen Weiler Plum Village eine klösterliche Gemeinschaft.

Thomas Lüchinger erfährt 1996 von einer geplanten Pilgerreise Thich Nhat Hanhs zu­sammen mit dem Tiep-Hien-Orden zum Bodh Gaya, dem Baum der Erkenntnis. Er entschei­det sich spontan zu einer filmischen Dokumen­tation. Im Februar 1997 trifft die Filmcrew in Delhi auf die Pilgergruppe und begleitet die Nonnen und Mönche auf ihrer Reise quer durch Indien. Der Film steigt ohne weitere Erklärungen an diesem Punkt ein: Die digitale Videokamera hält zahlreiche Meditationsübun­gen und Rituale, Vorträge und Begegnungen mit der lokalen Bevölkerung fest, ihr Blick ver­schmilzt zunehmend mit demjenigen der Pil­gergemeinschaft, die die Grew mit ihrer Aus­rüstung in ihrer praktizierenden Andacht nicht stören möchte. Der Schnitt passt sich dem Rhythmus der Pilgerreise an und übernimmt formal die Ruhe, die in Thich Nhat Hanhs «Achtsamkeits-Meditation» praktiziert wird. Lüchinger verzichtet auf Off-Kommentare und arbeitet grösstenteils mit Originalton.

Dies ist jedoch gleichzeitig die grösste Schwäche von Lüchingers Dokumentarfilm und Kinoerstling. Schritte der Achtsamkeit verweigert uns vor allem durch seine formalen Eigenheiten den tieferen Einblick in dieses Unternehmen: Der Film beschränkt sich hauptsächlich auf Grossaufnahmen und verunmöglicht so ein Gefühl für die Räumlichkeit. Das Patchwork an Bildern fügt sich nie zu einem Ganzen und lässt somit viele Fragen offen: Wer sind die Pilgerlnnen? Wer ist das Publikum, sind es Europäerinnen oder Leute, die sich spontan angeschlosscn haben? Ist es eine Pilger- oder Vortragsreise, und welche Position und Funktion hat der allgegenwärtige Meister in dieser Gruppe? Diffus wird damit auch der filmische Standpunkt: Einmal ist Lüchinger Teil des aufmerksamen Publikums, dann wird er zum Meditierenden, und manch­mal beobachtet er nüchtern. Problematisch wirkt dies, wenn er Bilder des indischen Alltags in die meisterlichen Meditationsübungen ein­fliessen lässt. Hier gelingt es Lüchinger nicht, einen Bezug zwischen der Reise und der - reli­giösen und kulturellen - Umgebung herzustel­len; viele Bilder wirken beliebig.

Jen Haas
geb. 1968, studierte Soziologie, Film- und Publizistikwissenschaft an der Universität Zürich und arbeitet als freier Journalist in Zürich.
(Stand: 2018)
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