Im Folgenden sollen die essayistischen Elemente in Orson Welles’ Kurzfilm Portrait of Gina analysiert werden, der 1958 als Pilotsendung für das Fernsehen entstanden ist, aber zu Lebzeiten von Welles niemals gezeigt wurde.1 Es gibt nahezu keine Auseinandersetzung mit dem Film, da er - lange Zeit verschollen geglaubt - erst vor kurzem wieder aufgefunden worden ist. So wundert es nicht, wenn sich selbst der renommierte Weiles-Kenner Jonathan Rosenbaum bei der Beurteilung zurückhaltend äussert: «Nach dem Ausschnitt zu urteilen, den ich gesehen habe, ist es kein sehr ehrgeiziges Werk, sondern eindeutig ein sehr exzentrischer und persönlicher Film, der viele der Taktiken und Techniken vorwegnimmt - einschliesslich der sehr raschen Schnittfolge -, die Welles später in F for Fake anwendet.»2 In dem Film sind jedoch Kapazitäten versteckt, die jene von Rosenbaum angedeutete Einordnung unter Welles’ «Essayfilme» erhellen und Aufschlüsse über Welles’ eigenes Verständnis dieser Gattung ermöglichen.
Your obedient servant
Zu Beginn von Welles’ Portrait of Gina ertönt das Harry-Lime-Thema, die berühmte Zither-Musik, die in dem Film The Third Man (Der Dritte Mann, Carol Reed, GB 1949) die von Welles gespielte Figur leitmotivisch ankündigte und seitdem auch ausserhalb des Films mit der Persönlichkeit Welles identifiziert wird. Zugleich erscheint sein Name auf einer Wand aus senkrechten schmalen Holzlamellen, die sich um sich selbst drehen, sodass der Schriftzug abwechselnd wegklappt und wieder hervorkommt. Von Beginn an signalisiert das Selbstzitat der Musik und der dynamisch rotierende Name, dass wir es mit einem selbstbewussten Autor zu tun haben, der sein Markenzeichen ironisch zu präsentieren weiss. Gleich darauf tritt Welles vor schwarzem Flintergrund im perfekt sitzenden Smoking als gefälliger Gastgeber auf, der - direkt in die Kamera sprechend - ankündigt, uns mit einer Geschichte unterhalten zu wollen: «Diesmal ist der Schauplatz Italien, wo wir uns nicht so ganz ernsthaft einem wichtigen Thema widmen.»
Es ist eine bekannte Grundsituation: Der Gastgeber einer Abendgesellschaft gibt im Plauderton eine Anekdote zum Besten; eine Situation, die übrigens auch in Welles’ Kino-Spielfilmen öfter vorkommt, zum Beispiel in Confidential Report (1955), als Mr. Arkadin auf einer Party die Geschichte vom Frosch und dem Skorpion erzählt, oder in F for Fake (1973), als Welles am Kopfende eines Restauranttischs seinen Freunden unglaubliche Geschichten aus der Welt des Films berichtet. In Portrait of Gina aber spricht «der Gastgeber» direkt an die Kamera gewandt zu den unsichtbaren Zuhörern. Der (fälschliche) Eindruck einer Live-Sendung entsteht, mit dem Welles - wie wir noch sehen werden - ironisch spielt. Der im Frühjahr 1958 gedrehte halbstündige 35-mm-Film ist als Pilotsendung für die amerikanische Fernsehstation CBS entworfen worden.3 Die direkte Erzählsituation ist dem damals noch jungen Medium Fernsehen geschuldet, wie Welles in einem Interview mit dem Kritiker André Bazin aus dem gleichen Jahr bekennt: «... das Fernsehen ist der Feind der klassischen filmischen Werte, nicht aber des Films selber. Es ist ein wunderbares Verfahren [...], doch kein dramatisches, sondern ein narratives Verfahren; das Fernsehen ist sogar das ideale Ausdrucksmittel des Erzählers. [...] Das Fernsehen ist für mich also vor allem ein Mittel, um meinen Hang zum Geschichtenerzählen zu befriedigen, ähnlich wie es die arabischen Geschichtenerzähler auf dem Marktplatz tun.»4 Die unmittelbare Erzählsituation spiegelt also Welles’Versuch, das Fernsehen nicht bloss als Kino mit kleiner Leinwand aufzufassen, sondern die Eigengesetzlichkeit, die spezifischen Möglichkeiten dieses Mediums zu erkunden.
Welles charakterisiert Portrait of Gina gegenüber Bazin wie folgt: «Eigentlich ist es überhaupt kein Dokumentarfilm, es ist ein Essay, ein persönliches Essay... Es ist eine Art Tagebuch, in dem ich mich über ein bestimmtes Thema - Lollobrigida - auslasse, und zwar nicht unbedingt über die wirkliche. Und es ist noch persönlicher als ein Standpunkt, es ist wirklich ein Essay, ein Versuch.»5 Welles entlehnt den Begriff wohl direkt von Montaigne, den er als seinen Lieblingsschriftsteller bezeichnet: «Ich lese ihn buchstäblich jede Woche. Und zwar so, wie die Leute die Bibel lesen: nicht sehr lange Passagen. Mindestens einmal pro Woche nehme ich meinen Montaigne und lese ein oder zwei Seiten, nur so - zum Vergnügen.»6 Das filmische Verfahren aber entlehnt er von dem französischen Regisseur und Schauspieler Sacha Guitry, indem er Guitrys Technik, die darin bestand, den Erzähler in die Erzählung einzublenden, auf einen Film mit dokumentarischem Gegenstand übertrug. Welles: «Schauen Sie sich die Filme von Guitry an. Er stellt sich selbst in den Mittelpunkt. Er erscheint zu Beginn, ohne Scheu, genüsslich und amüsant, tritt in seine Geschichten ein und zieht sich dann aus ihnen wieder zurück. Das, was ich mache, ist vielleicht ein technisch ausgefeilterer Nachfolger der Essay-Konzeption von Sacha Guitry. Auf alle Fälle schulde ich ihm viel.»7
Welles spielt damit unter anderem auf den Film Le roman d’un tricheur (F 1936) an, wo Guitry passagenweise mit einer Voice-over-Erzählung das Handeln der von ihm seihst gespielten Hauptfigur geistreich kommentiert und kontrolliert. In diesem Film werden übrigens auch die Credits vom ErzählerRegisseur Guitry gesprochen, ganz im Stil, in dem später Welles The Magnificent Ambersons (USA 1942) beendet: «Ich habe den Film geschrieben. Mein Name ist Orson Welles.» Guitry gilt als der Erste, der sich des «Films in der ersten Person» bedient hat.8 Welles selber, der auch zweimal als Schauspieler in Guitrys Filmen mitwirkte, experimentiert mit der zeitlich und räumlich versetzten Erzählerinstanz erstmals in seinem unvollendeten Don Quixote-Projekt, das er im Jahr vor Portrait of Gina beginnt. Bazin berichtet damals begeistert: «Übrigens tritt der Autor in seinem Don Quixote nicht in einer Rolle auf, sondern er taucht als er selbst, als Orson Welles, auf.»9
Zurück zu Portrait of Gina: Welles war Anfang 1958 gerade mit seiner Familie nach Fregene in der Nähe von Rom gezogen, sodass das für den Film gewählte Thema und der Drehort Italien wohl auch auf private Umstände zurückzuführen sind. Seine Frau, die italienische Schauspielerin Paola Mori, wird im Film zunächst beiläufig erwähnt («trafen wir ... einen Landsmann meiner italienischen Frau»), dann steht sie überraschend mit einer Amateur-Filmkamera an der Schiffsreling neben Welles und dreht (scheinbar) einige der Szenen mit Tarantella tanzenden Italienern, die wir im Gegenschuss zu sehen bekommen. Und als Weltes das Interview mit dem Schauspieler Rossano Brazzi ankündigt, wird uns nebenbei mitgeteilt, dass das Ehepaar gerade dabei ist, in Richtung Rom von Bord zu gehen. Welles rekurriert hierbei durchaus auf die Kenntnisse der Zuschauer aus der Boulevardpresse - die er im Gina-Film auch systematisch als Bildquelle heranzieht (Magazinfotos von Brazzi, Caruso, Eleonora Duse, Elsa Maxwell, Maria Callas, Vittorio de Sica, Gina Lollobrigida und ihrem Mann). Wie viele Essayisten bringt der Autor Elemente seiner familiären Situation als Material der Darstellung ein - wenn sie auch nicht unbedingt «wahr» sein müssen ...
Welles fächert sich also in eine ganze Reihe von Rollen auf, zwischen denen er ständig hin und her wechselt: berühmter Filmschauspielcr, Conferencier im Filmstudio, Reiseführer in Italien, Privatperson mit Ehefrau. Eine Einheit finden diese Facetten in der Persönlichkeit von Welles. Diese Subjektivität der «ersten Person Singular»10 unterscheidet sich deutlich sowohl vom klassischen Dokumentarfilm (à la Flaherty) als auch von den meist autorenlos wirkenden Features im Fernsehen. Ein derart von der Person, dem Witz und der Menschlichkeit Welles’ geprägter Film konterkariert die als Neutralität getarnte Farblosigkeit anderer Regisseure und Moderatoren und bezeichnet eine Qualität, die wir essayistisch nennen können. Oder zugespitzter gesagt, mit einer Formulierung von Frieda Grafe: «Der Essay-Film ist der Autorenfilm des Doku- mentargenres.»11
Die Abschweifung als Prinzip
Nach der Begrüssung im Studio zeigt uns Welles ein monumentales Werbeplakat mit weiblichen Filmstars, ein Who is Who des italienischen Kinos, zerstückelt in zahllose Einzelaufnahmen. Ein unruhiger Blick tastet die Gesichter und Körper ab, zoomt zuweilen ruckartig vor, bricht wieder ab, schwenkt seitwärts. Eine launige Musik sekundiert dem Kommentar: «Ende der Vierziger entwarfen diese Mädchen das Décolleté völlig neu. Sie revolutionierten Haarmode und Make-up für die halbe Welt.»12 Innerhalb der rasanten Umschnitte erscheint immer wieder ein Mann beim Fotografieren - auch er eine gezeichnete Figur des Plakats. Das unruhige Vordringen der Kamera, das zweideutige Abschwenken der Beine der Filmsternchen wird somit gebrochen, ironisiert als Blick eines männlichen Voyeurs und als Blick eines Fotojägers: beides Rollen, die auch den Regisseur Welles miteinbeziehen.
Die Ansammlung der Filmschauspielerinnen dient aber nur als Einleitung, um mit einem Schwenk auf einem Plakat von Gina Lollobrigida zu landen, auf die wir uns nun - wie der Moderator versichert - «konzentrieren». Das ist, wie sich schon bald herausstellt, ein leeres Versprechen, denn der Film nutzt jede Gelegenheit, um abzuschweifen; er scheint dabei geradezu ein Eigenleben zu entwickeln. Da folgt zunächst das Interview mit dem Schauspieler Rossano Brazzi - «einem Freund von Gina», wie es in der merkwürdig dünnen Überleitung heisst. Doch das Gespräch handelt ausschliesslich von Brazzis stockender Popularität und vom Volkscharaker der Italiener als «geborene Schauspieler». Das Thema der auch im Alltag schauspielernden Italiener führt Welles in einer Plauderei mit seiner Frau fort, während das Paar in humorvollen Karikaturen des Zeichners Steinberg blättert, die wild gestikulierende Italiener im Gespräch auf der Strasse zeigen: Mancher von ihnen drückt sich gar mit sieben rudernden Armen zugleich aus.
Wir kehren nun mit einer Selbstermahnung von Welles kurzzeitig zum Gina- Porträt zurück: «Während die Bevölkerung die zivilisierte Sitte der Siesta pflegt, dürfen wir das wichtige Thema unserer Studie nicht vergessen: die Frauen, [...] die Filmstars [...] Gina Lollobrigida.» Dabei sehen wir Welles allein durch ein menschenleeres Terrain mit römischen Ruinen streifen, das sich an der Via Ap- pia Antica befindet, unterschnitten mit Plakaten und Fotocollagen der Starlets, unter anderen auch die bereits bekannte Reihe mit Gina. Unvermittelt findet sich Welles vor dem Tor von Ginas Villa wieder, aber nur, um dort lächelnd einen erneuten Exkurs anzukündigen: «Doch wir sind zu früh für unsere Verabredung. Bevor wir Gina treffen, noch ein Wort mit einem ihrer Freunde und Arbeitskollegen: Vittorio de Sica.»13 Aushangfotos gemeinsamer Filme erscheinen, und de Sica äussert einleitend ein paar Worte über Gina, doch bereits mit der ersten Frage, die Welles stellt, während er sich noch Mantel und Schal auszieht, lenkt dieser das Gespräch auf die bereits mit Brazzi diskutierten Themen: das Schauspieltalent der Italiener und das Auf und Ab der Karrieren. Das Wiederaufnehmen unterbrochener Themenstränge ist die Kehrseite des Verfahrens der Abschweifung. Welles umkreist sein Thema mehr, als dass er es wirklich darstellt. Er lässt uns spüren, dass Lollobrigida nur ein Vorwand ist, ein roter Faden, zu dem er zurückkommt, um ihn wieder zu verlassen.
Vor allem treibt er die Spannung hoch und schürt die Erwartung des Zuschauers auf ein ultimatives Zusammentreffen, nur um sie mehrmals genüsslich zu enttäuschen. Als er zum zweiten Mal vor Ginas Villa steht, vertröstet er uns mit den Worten: «Es stellt sich gerade heraus, das uns vor dem Treffen noch Zeit bleibt, kurz ins Studio umzuschalten. Ein Zufall? Nennen Sie es die Magie des Fernsehens.» Es folgt die auf einer Tafel euphemistisch als «Mitteilung des Sponsors» angekündigte Werbeunterbrechung. Selbst dieses strukturell ausserhalb des eigentlichen Films stehende Element baut Welles zur Steigerung der Erwartung ein. Die aberwitzige Begründung für die mehrmalige Verzögerung des Treffens («wir sind zu früh ...»; «es bleibt uns gerade noch Zeit ...») wiegt uns in der Illusion einer Live-Sendung: ein Eindruck, den Welles jedoch immer wieder - für den Zuschauer durchschaubar - mit Kleidungs-, Raum- und Zeitsprüngen gezielt unterläuft. Die Gleichzeitigkeit von Aufnahmevorgang und Zuschauererlebnis, einer Einheit der Zeit, wird dennoch verbal immer wieder behauptet, und zwar paradoxerweise sowohl vom Reporter Welles in Italien («es bleibt uns gerade noch Zeit...») als auch vom Moderator Welles im Studio («ich erhalte gerade ein Zeichen ...»). Ende der Fünfzigerjahre ist die Live- Sendung das Flaggschiff des neuen Mediums Fernsehen. Grosse Teile des Programms - weitaus mehr als heute - werden direkt gesendet. Für gewöhnlich sind damals wie heute der Korrespondent vor Ort und der Moderator im Studio nicht dieselben Personen. Nach Art der Hase-und-Igel-Geschichte ist Welles, wo die Kamera auch hinkommt, «immer schon da». Mit geradezu diebischem Vergnügen durchkreuzt er die Konventionen, treibt ein geistreiches, amüsantes Spiel mit den (vorgeblichen) Charakteristika des Fernsehens.
Vor allem aber hintertreibt er die Einheit des Themas, wie sie im Porträtfilm oder in der Reisedokumentation üblich ist, um Exkurse einzuflechten, denen er nach eigenem Gusto ein Stück weit folgt und sie dann abrupt wechselt. Ein metaphorisches Bild dafür ist die zuweilen kurz eingeschnittene umklappende Lamellenwand, die das schnelle Umschalten auf ein anderes Thema signalisiert. Von der mit Sonntagsmalern bevölkerten Spanischen Treppe in Rom springt Welles mit einem Halbsatz zu Ginas Geburtsort nach Subiaco, indem er kurzerhand behauptet, dass von jeher die schönsten Malermodelle von dort kämen, um dann auf Ginas erste Jobs als Eotomodell für Bildgeschichten überzuleiten. Von Subiaco, 50 Kilometer östlich von Rom, wechselt er darauf fast unmerklich zu Ginas Villa nach Sabaudia, 90 Kilometer südlich von Rom, und durchquert in Siebenmcilenstiefeln Mittelitalien.
Hinter einigen Abschweifungen vermutet der Filmkritiker Bill Krohn ein autobiografisches Motiv: «Sein Porträt von Lollobrigida wird abwechselnd zur Studie eines Pin-up-Girls, des italienischen Kinos, Italiens überhaupt und sogar, indirekt, seiner eigenen künstlerischen und persönlichen Missgeschicke in Amerika, ein unterirdischer autobiografischer Fluss, der nur in den Essayfilmen der Siebzigerjahre an die Oberfläche kommt.»14 Krohn spielt auf die Beharrlichkeit an, mit der Welles immer wieder das Thema der Karriereschwankungen anschneidet. Brazzis geringe Popularität in seinem Heimatland, de Sicas Filmflops und Ginas Probleme mit der Presse thematisieren Welles’ eigene berufliche Krise in Hollywood. Auch dieses, den Autor obsessiv beschäftigende Thema findet Platz in dem vorgeblichen Porträt der Gina Lollobrigida. Die Abschweifung hat System; ein System, das immer wieder auf die Person des Autors zurückführt. Dieses Verfahren stammt aus dem Essay, dessen geheimer Motor das Wort «apropos» ist. Ein Essayist beginnt an einer bestimmten Stelle seines Themas und verlässt es dort, wo es ihn nicht mehr interessiert. Das mahnt an eine totale Freiheit des Geistes, wie sie auch in den lebhaften Umbrüchen von Portrait of Gina (1958) bis F for Fake (1973) zum Ausdruck kommt. Mit dem Medium seiner eigenen Stimme «erschafft» Welles seine essayistischen Filme, springt ungehemmt von einem Thema zum nächsten, überbrückt die fehlende Kontinuität des Ortes oder der Zeit.
Improvisation und Experiment
Die Lust an der Abdrift und die gleichzeitige Notwendigkeit, das höchst zerstückelt aufgenommene Filmmaterial durch die Sprache zu bündeln, lassen sich letztlich auf die Drehmethode des Gina-Films zurückführen. Die zum Teil ultrakurzen Einstellungen, die unzähligen Sprünge der Bildmaterialien und das «Klappern» der Anschlüsse lassen vermuten, dass er nach dem Prinzip der totalen Improvisation gedreht wurde. Diese Methode hatte Welles im Jahr zuvor bei seinem Don Quixote-Projekt erstmals bewusst angewandt und Geschmack daran gefunden: «Der wahre Grund ist, dass dies ein Drehverfahren ist, das ich selbst noch nie praktiziert habe, und ich ausserdem wusste, dass einige Stummfilm-Meisterwerke so gedreht worden waren. Ich war mir zudem sicher, dass diese Geschichte frischer und interessanter werden würde, wenn ich wirklich improvisierte, und das ist sie auch geworden, ganz sicher. [...] Das ist eine sehr spezielle Arbeitsmethode, die für kommerzielle Filme gar nicht praktikabel ist.»15
Der Don Quixote-Film wurde, wie auch Mitarbeiter bestätigen, von vornherein als Essay entworfen.16 Betrachten wir daher dieses Projekt ein wenig genauer. Es sollte unterschiedliche, auseinanderdriftende Ebenen miteinander verzahnen: Das Paar Don Quijote und Sancho Pansa streift in bekannt burlesker Weise durch karge Wüstenlandschaften, verirrt sich aber auch in die heutige Zeit. Ausgelassen tollt Sancho anlässlich der Stierkampf-Fiesta in Pamplona im historischen Kostüm durch die Strassen, mitten unter Autos und Touristen. Als in einem Kinofilm ein junges Mädchen bedroht wird, attackiert der entrüstete Don Quijote die Leinwand und durchsticht sie, verfolgt von der aufgebrachten Besuchermenge. Darüber hinaus wollte Welles noch eine Kurzgeschichte von Cunningham Graham und eine Passage von Prosper Mérimée einarbeiten und das gesamte Material mit einem Prolog und Epilog über das moderne Spanien, über den Tourismus, die Prozessionen in Sevilla usw. rahmen. Die Dreharbeiten dieses selbst finanzierten (!) Films finden über einen langen Zeitraum von 1957 bis in die Siebzigerjahre an den unterschiedlichsten Drehorten in Mexiko, Italien und Spanien statt und sollten zugleich das Abenteuer ihrer Herstellung enthalten. Der Erzähler Welles als er selber ordnet und arrangiert das disparate Material. Durch diese Massnahme erst gibt es bei den Dreharbeiten Raum für Improvisation und radikales Experiment.
Welles hat sich des öfteren zur Tradition der berufsmässigen Experimentatoren bekannt: «Ich bin nichts anderes als einer, der experimentiert. Meine einzige Leistung besteht in meinen Augen darin, dass ich keine Gesetze erlasse, sondern experimentiere [...]. Wissen Sie, Kunstwerke, Nachwelt und Renommee interessieren mich nicht, nur der Spass am Experimentieren selbst.»17 Es lässt sich ergänzen, wie eine frühere Äusserung zeigt, dass Welles auch das Experimentieren nicht verabsolutiert, sondern an Bedingungen knüpft: «Das Experimentieren vergleiche ich gerne mit dem Segeln eines Bootes. Man kann sich der Winde niemals sicher sein, aber mit einer sicheren Hand, die das Boot manövriert, kann man segeln, wohin man will; ohne sie kann man nicht mal den Hafen verlassen.»18 Nur die Integrität der Persönlichkeit und die Klarheit seiner Haltung sind der Garant dafür, dass der Film keine Havarie erleidet. Im Fall von Don Quixote hatten die Schauspieler zuvor wochenlang die Texte geprobt.
Seit dem unvollendeten Don Quixote-Abenteuer hat Welles die improvisierende Methode für sich weiterentwickelt: Er nimmt fortwährend Bilder auf, deren genauer «Ort» im Film zum Zeitpunkt der Aufnahme noch nicht feststeht. Diese Bilder finden ihre Funktion erst im Laufe der Zeit, im Zusammenwirken mit anderen Bildern. Anderseits beeinflussen hier die bereits vorhandenen Bilder die Auswahl der noch zu drehenden, regen an, bestimmte Bilder zu suchen, die zu den andern passen, eine gewisse Spannung mit ihnen aufbauen. Im Essayfilm wird nicht gleich von einer «Einheit» ausgegangen, aber es wird nach ihr gesucht. Vielleicht wird die Filmästhetik einmal den Unterschied zwischen improvisiert und nicht-improvisiert als wichtiger ansehen als den zwischen inszeniert und dokumentarisch. Der improvisierende Regisseur lässt sich auf das Vorgefundene ein, muss aber immer wieder neben sich treten, gleichsam auf eine zweite Ebene gelangen, um seine eigene Arbeit zu beobachten, wie Welles instruktiv erläutert: «Jedesmal wenn ich mich für ein Filmprojekt interessiere, das ich machen will, drehe ich ein oder zwei Szenen, was zu der Legende geführt hat, dass ich niemals meine Filme beende. In Wirklichkeit versuche ich herauszufinden, nach welcher Art und Weise ich den Film machen möchte. Man könnte das als eine Art Testaufnahmen bezeichnen.»19
Der Test, das Experiment, der Versuch und der Essay wurzeln in ein und derselben Idee: Das Ergebnis ist noch «unbekannt». Das lässt sich auch vom Improvisieren sagen, denn hier kommt es darauf an, ohne Vorbereitung, aus dem Stegreif, etwas zu schaffen oder darzubieten. Eine Stegreifschöpfung behält das Moment des Provisorischen.
Dabei sein im Moment der Entstehung ...
Der unrund und wenig ambitiös scheinende Gesamteindruck von Portrait of Gina verdankt sich vor allem der rasanten und abrupten Montage: ultrakurze Gesprächswechsel, bei denen Welles seinen Partnern, wie treffend bemerkt worden ist, «fast auf die Füsse tritt», disparate Bildmaterialien, nicht zu Ende geführte Schwenks, Wiederholungen vieler Bildmotive, sprunghafter Wechsel. Die in der Struktur eines jeden Films angelegte «Verbesserungsfähigkeit» ist für den Philosophen Walter Benjamin gerade die wesentliche Eigenschaft des Filmmediums, die auch unsere Auffassung von anderen Kunstwerken grundsätzlich umgestalten wird: «Der fertige Film ist nichts weniger als eine Schöpfung aus «einem» Wurf, er ist aus sehr vielen einzelnen Bildern und Bildfolgen montiert, zwischen denen der Monteur die Wahl hat - Bildern, die im übrigen von vorneherein in der Folge der Aufnahmen bis zum endgültigen Gelingen beliebig zu verbessern gewesen waren.»20 Im Filmessay wird der Verzicht auf den einmaligen Wurf, auf «Ewigkeitswerke» zum Programm: Perfektibilität (Verbesserungsfähigkeit) statt Perfektion, das Abenteuer der Entstehung statt definitiver Erscheinungsform, der Verlauf statt Finalität. Konsequenterweise kennt ein solcher Filmessay auch keine letzte Wahrheit, keinen finalen Höhepunkt, sondern das Ende ist stets willkürlich, häufig ein profaner Abbruch der Untersuchung. (Welles: «Leider erhalte ich gerade ein Zeichen, dass wir keine Zeit mehr haben ...»). Hinter dem Wunsch, die Spuren der Herstellung nicht abzuschmirgeln und das Provisorische zu bewahren, steht weder Unvermögen, Ambitionslosig- keit oder Spleen, sondern eine grundsätzlich andere Auffassung vom Film und vom Kunstwerk.
In seinem Essayfilm F for Fake steht Welles als Magier gekleidet vor der prächtigen mittelalterlichen Kathedrale von Chartres und sinniert darüber, dass alle Werke der Menschheit vergehen. Uber sein eigenes Œuvre denkt er ebenso: «Ich hege keine grossen Gefühle für das, was ich gemacht habe; es ist in meinen Augen wirklich ohne Wert. Ich betrachte meine Arbeit und die meisten Werke, die ich in der Welt sehe, mit tiefem Zynismus, nicht aber den Vorgang der Arbeit an einem Stoff. [...] Die menschliche Funktion versetzt mich in Ekstase, und darunter verstehe ich alles, was wir mit unseren Händen, unseren Sinnen etc. machen. Ist unsere Arbeit einmal fertig, ist sie für mich nicht so wichtig wie für die meisten Ästheten: Es ist der Vorgang, der mich interessiert, nicht das Resultat, und das Resultat kann mich nur dann überzeugen, wenn der Geruch menschlichen Schweisses oder ein Gedanke davon ausgeht.»21
Für den Filmzuschauer kommt es demnach darauf an, an dem Prozess des Filmemachens teilzunehmen, der Kreation im Moment ihres Entstehens beizuwohnen. Welles sucht nach einer Art «present continuous»-Form des Kinos, ein französisches «en train de», ein deutsches «gerade dabei sein». Für den Theaterschauspieler, den Zauberkünstler und den live sendenden Radiosprecher Welles mag das bereits in der Einmaligkeit der jeweiligen Aufführung einzulösen sein, für den Filmregisseur Welles stellt das ein Problem dar: «Das grösste Hindernis für die Form des Spielfilms besteht darin, dass jeder gedrehte Spielfilm veraltet ist. Gerade durch den so langwierigen Prozess dieses Filmemachens ist das Resultat notwendigerweise mindestens ein Jahr überholt. Er sollte journalistisch sein; er sollte die Stimmung des Augenblicks widerspiegeln [...] Ein Essayfilm ist jedoch zeitlich nicht gebunden, da er den - wie bescheiden auch immer gearteten - Beitrag des Autors im Moment seines Entstehens darstellt.»22 Ein Essayfilm stellt immer nur eine vorläufige Bearbeitung des Themas dar, ist kein Modell für die «Ewigkeit». Er bekennt sich zur Willkürlichkeit künstlerischer Entscheidungen, sät Zweifel und Skepsis.
Die Provokation einer solchen Praxis des Kunstwerks liegt darin, dass die Werte des bürgerlichen Kunstbegriffs - Geheimnis, Genie und Talent - ausser Kurs gesetzt werden. Wenn nicht einmal mehr der Künstler sich in der Lage sieht, eine «definitive Version» vorzulegen, bleibt alles «in Bewegung». Interessanterweise hat Welles, der im Feuilleton landläufig als «Genie» apostrophiert wird, diese Kategorie selber stets zu denunzieren gesucht, durch seine Auftritte als Magier und Scharlatan, sein Spiel mit Fälschungen, Plagiaten und Hommagen.23
Fälschung und Identität
Seine beiden letzten Arbeiten, der Kinofilm F for Fake und die Fernsehproduktion Filming Othello (1978), sind geistreiche Essays über das Thema der Kunst und der Fälschung. Welles’ Montage in F for Fake basiert provokanterweise auf nicht verwerteten Aufnahmen, den Resten einer Fernsehreportage über den Kunstfälscher Elmvr de Hory, die der französische Filmemacher und frühere Kunsthändler François Reichenbach gedreht hatte, ironischerweise einer der Hauptvertreter des Cinéma vérité.24 Weiteres Material dreht Welles selber dazu, unter anderem ein Gespräch mit Clifford Irving, der wiederum eine Biografie über de Hory geschrieben hatte und dessen Sensationsinterview mit dem verschwundenen Multimillionär Howard Hughes gerade als Fälschung enttarnt wurde (Irving bekam dafür eine Dreiviertelmillion Dollar Vorschuss und später zwölf Monate Gefängnis). Welles tritt als er selber auf, in der Rolle des Erzählers und Magiers, der Anekdoten aus der Welt des Films berichtet. Dabei rekurriert er auch auf autobiografische Erlebnisse, wie zum Beispiel ein nur durch Hochstapelei erreichtes Engagement zu Beginn seiner Schauspielkarriere und vor allem sein 1938 inszeniertes, berühmt gewordenes Radiohörspiel über die Landung von Marsbewohnern auf der Erde, das - von einigen Hörern als authentische Reportage aufgefasst - eine Panik in der Bevölkerung verursacht hatte.
In Filming Othello präsentiert er schliesslich das Medium Film, die Kunst des 20. Jahrhunderts, als die Kunst der Fälschung und Täuschung par excellence. Im Gespräch mit zwei Freunden berichtet Welles von den abenteuerlichen Dreharbeiten seiner Verfilmung von Shakespeares Othello zu Beginn der Fünfzigerjahre. Da die Dreharbeiten sich über mehrere Jahre und zahlreiche verschiedene Drehorte erstreckten, konnten Probleme der Anschlüsse und der Kontinuität nur durch eine trickreich zerstückelte Montage und einfallsreiche Täuschungen gelöst werden. So kommentiert Welles eine seiner «Fälschungen» wie folgt: «Jago tritt aus dem Portikus der Kirche von Torcello heraus, einer Insel in der Lagune von Venedig, um in einer portugiesischen Zitadelle an der afrikanischen Küste zu verschwinden. Er hat mitten im Satz die halbe Welt durchquert und den Kontinent gewechselt. [...] Ich hatte keine Möglichkeit, die Elemente des Puzzles zu ordnen, ausser in meinem Kopf.» In diesen aus finanziellem Zwang improvisierten Dreharbeiten des Othello-Films, die aber zugleich künstlerisch herausragende Ergebnisse zeitigten, muss man wohl den Anfang des wellesschen Faibles für das essayistisch improvisierende Verfahren sehen. Der Othello-Film selber konnte diese Ansprüche 1952 selber noch nicht erfüllen, wohl aber Filming Othello im Jahr 1978.
Einige Filmkritiker, darunter Jonathan Rosenbaum und Bill Krohn, haben in den letzten Jahren mit fundierten Artikeln die These vom «independent avantgarde filmmaker» Orson Welles erarbeitet, und zwar als Korrektiv zu dem von interessierter Seite in Umlauf gebrachten Bild des grandiosen Versagers Welles, der nicht fähig sei, seine zahllosen angefangenen Filme zu beenden. Die Filmforscher schlagen eine neue Sichtweise des Werks vor, bei welcher der Begriff des Filmessays im Zentrum steht. Es handelt sich bei diesen bisher weitgehend unbekannt und «unsichtbar» (weil unvollendet) gebliebenen Werken um eine eigenständige Linie im Œuvre, das demnach von Beginn an zwei Väter hatte: Shakespeare und Montaigne. Menschliche Abgründe, Korruption, Verfolgung der Unschuld durch skrupellose Macht finden wir in den dramatischen shakespeareschen Filmen - das Leichtfüssige, nur Skizzierte, die Zerbrechlichkeit der Welt dagegen in den essayistischen Filmen. Im Folgenden sollen einige Indizien genannt werden, die zeigen, dass Shakespeare und Montaigne bei Welles nicht bloss entgegengesetzte Pole sind, sondern dass sie sich vielfach gegenseitig durchdringen. Auf diese Idee zielte übrigens bereits Bazin, als er Welles im Gespräch darauf hinwies, dass Shakespeare die Essais von Montaigne in der Übersetzung von Johannes Fiorio gelesen hatte.25
Das Thema der Fälschung beherrscht von Beginn an das filmische Werk von Welles. Die ersten Worte, die der Zeitungsmogul Kane in Citizen Kane (USA 1941) spricht, lauten: «Don’t believe anything you hear on the radio, read The Inquirer.» Der Ratschlag - sicher auch ein «private joke» von Welles, der auf sein Panik verursachendes Radiohörspiel anspielt-erscheint im Film pikanterweise innerhalb einer «dokumentarischen» Kinowochenschau News on the March, in der Kane interviewt wird.26 Citizen Kane handelt davon, dass sich ein Reporter auf die Suche nach der «Wahrheit» über Kane macht, doch je mehr er in dessen Geheimnis eindringt, desto mehr löst sich der Untersuchungsgegenstand vor seinen Augen auf. In Confidential Report (1955) lässt der Unterweltkönig Arkadin seine eigene Vergangenheit durch den Verehrer seiner Tochter recherchieren, um alle kompromittierenden Spuren zu tilgen. Er steht unter dem Zwang, seine Vergangenheit auszulöschen. Arkadin: «Hier ist mein Geheimnis: Ich weiss nicht, wer ich bin.» - und der jugendliche Rechercheur ruft daraufhin aus: «Amnesie!» - «I am not what I am», gesteht auch Jago seinem Diener, nachdem er seinen Herrn Othello täuschte und in den Untergang stürzte (Othello, 1952). In The Lady from Shanghai (1946) stolpert der junge naive Matrose O’Hara, auf der Suche nach der starken, souveränen Frau (Rita Hayworth), über eine Rutsche in ein Spiegelkabinett: Die vertraute Ordnung löst sich auf, feste Konturen verschwimmen, werden diffus. Hinter ihnen wird etwas anderes sichtbar: eine Ahnung von der Labilität der Zustände.
Zweifel und Skepsis an den Dingen, denen wir gemeinhin dauerhaften Wert zumessen, gehören seit Montaigne zu den vornehmsten Aufgaben des Essays. Es ist mehr als auffällig, dass in Essayfilmen «nichts ganz das ist, als was es auf den ersten Blick erscheint. Der Grund dafür ist nicht so sehr eine absichtliche Verschleierung (wie manche vermuten), sondern die Beschwörung einer Welt, die auf Doppelsinnigkeit, Deformation und Widersprüchlichkeit gegründet ist - das fremde Unklassifizierbare, das unsere eigene Existenz gleichzeitig unterminiert und illuminiert.»27
Dies trifft nicht zuletzt auch auf die als Weltstar apostrophierte Gina Lollo- brigida zu. Welles entwirft in Portrait of Gina ein ungeschönt realistisches, durchaus kontroverses Bild der Schauspielerin: Ginas Karriere sei der Aufstieg eines Landmädchens mit viel Ehrgeiz zum Weltruhm. Ihr heutiger Reichtum, die herrschaftliche Villa, das fürstliche Anwesen kontrastiere stark mit ihrer Herkunft. In ihrem Geburtsort Subiaco spräche man nicht allzu gut von ihr, und sie versuche irgendwie immer noch Subiaco zu entkommen. Diese sich durch den ganzen Eilm ziehende These suggeriert Welles auch Ginas norditalienischer Brieffreundin Anna, die das Gesagte bestätigt. Welles’ eigene Formulierungen sind äusserst ambivalent - teils ironisch («... zum Luxus gezwungen»), teils verständnisvoll, da er auch zeigt, wem Gina zu entkommen sucht: Armut, Kriegszerstörung und Mittelmässigkeit eines Provinzstädtchens.
Schliesslich kommt es in den letzten Minuten des Films doch noch zur finalen Begegnung zwischen Gina und Welles. Ginas galamässigen Auftritt über die Treppe ihrer Villa begleitet er mit einer stichelnden Bemerkung über ihr Kleid, das sie selbst entworfen habe, «in mutiger Missachtung der Moden». Welles will hier von vorneherein die Strategie des Medienprofis Lollobrigida durchkreuzen. In dem geschulten Auftritt sehen wir eine Schauspielerin, die sich ihrer Wirkung und Bildpräsenz bewusst ist, die weiss, wie sie das Publikum für sich gewinnt. Ihren kalkuliert koketten Traumberuf - Schlangenbeschwörerin - illustriert sie zum Beispiel mit einer gekonnten Augenverdrehung. Direkt vor diesem Tête-à-tête hatte uns Welles aber gewarnt, dass Gina als Schauspielerin jede Geste, jeden Blick eingeübt habe («every eye-lash is organized»), unter den wachsamen Augen ihres Ehemanns und Agenten Dr. Milko Skofic.
Das in der nächsten Sequenz folgende Gespräch über Ginas Probleme mit der Presse und mit der Einkommenssteuerbehörde unterscheidet sich (in Thematik und Stil) stark von den üblichen, respektvollen TV-Interviews mit Prominenten. Das stets höfliche und sehr freundschaftliche Gespräch ist auch als Duell zweier gleichwertiger professioneller Darstellungskünstler zu lesen. Mit sehr viel Charme und Witz berichtet Gina von einer gegen sie gerichteten Verunglimpfungskampagne. In Wirklichkeit habe sie «nur wenige Jahre» sehr viel Geld verdient. Welles übersetzt ein von Gina in Italienisch geäussertes Entlastungsargument und dreht es zugleich mit süffisant ungläubigem Unterton zur Frage um: «Do all actors die in misery and poverty?» Gleich darauf erwähnt er ihren Diamantring am Finger und das grosse, von Hunden bewachte Anwesen, das doch auf bleibenden Reichtum schliessen lässt. Als Gina zu den Pressevorwürfen nichts Weiteres sagen will, fordert Welles sie geistesgegenwärtig auf, stattdessen über das zu berichten, was die Presse ihr «nicht» nachsagt. Als er dann schliesslich selber Ginas Konfliktgegner aufzählt, reizt er sie mit der Summierung derart, dass sie beinahe Beschimpfungen ausstösst. Im letzten Moment wird ihr die mediale Situation wieder bewusst, und sie hält sich schnell die Hand vor den Mund: «I can’t say this in television ...». Der geschlagene, gute Verlierer Welles lenkt darauf mit einem Witz zur Werbeunterbrechung über: «There are some words on television which can always be spoken.»
Essayfilm - ein Risiko per definitionem
Die Auftraggeber von Portrait of Gina hatten den Eindruck, ein Provisorium vor sich zu haben, nur dass für sie «provisorisch» zugleich unfertig, ungelenk und unvollendet bedeutete. Sie erklärten den Film für gescheitert und weigerten sich, ihn zu senden. Welles berichtet darüber mit einer gewissen Verbitterung: «Sie sagten damals, er sei technisch unzulänglich und könne nicht ausgestrahlt werden. [Ich] hatte viele neue Ideen darin - Steinberg-Zeichnungen, viele Standfotos, Gespräche, kleine Histörchen -, und das haben sie als technische Inkompetenz ausgelegt. Viel Zeit ging auch mit abgelichteten Filmplakaten drauf. Daran haben sie sich auch gestört. Es war sauber gearbeiteter Journalismus, speziell für «diesen Schirm». Ich über ein vorgegebenes Thema, Lollobrigida, und nicht etwa, wie sie wirklich ist. Ein Essay! Ach egal, sie haben es jedenfalls gehasst.»28 In einer späteren, stärker selbstkritischen Einschätzung ergänzt Welles einige Details: «Der Film war für die CBS. Als ich ihn dorthin geschickt hatte, gab es dort Schreie des Entsetzens und der Abscheu von Aubrey [James Aubrey Jr., der spätere Produktionschef der MGM], dessen Spitzname, wie Sie vielleicht wissen, «The Smiling Cobra» war. Das war das Aus. Der Film war nicht sehr gut. In dem Fall hatte die «grinsende Kobra» einmal Recht. Ich hatte sehr hart daran gearbeitet, und es wirkte dann auch so, als habe man hart dran gearbeitet. [...] Schätze, er war besser als die meisten.»29
Aus beiden Berichten kristallisiert sich heraus, das der Film quer zu den technischen und künstlerischen Normen seiner Zeit lag. Das wirft die Frage nach den generellen Produktionsbedingungen von Essayfilmen auf. Alexandre Astrucs 1948 erhobene Forderung nach der «camera stylo», der Kamera als Füllfederhalter, zielte darauf, das Autorenkonzept, wie wir es aus der Literatur oder der bildenden Kunst kennen, auf den Film zu übertragen. Diese - mit dem expliziten Hinweis auf den Filmautor Welles - vorgetragene emphatische Forderung zeigt hier deutlich ihre Sollbruchstelle: Die Filmproduktion unterliegt in grösserem Mass als Literatur und Malerei ökonomischen Zwängen. Die kostenintensive Herstellung reglementiert subtil (zuweilen auch offen) die künstlerische Unabhängigkeit des Autors. Eine Tatsache, die nachhaltigen Einfluss auf die Produktion von Essayfilmen ausübt, die als «Versuch» per definitionem ein künstlerisches und finanzielles Risiko darstellen.
Welles, dem dieser - wie er ihn nannte - «sehr teure Malkasten» mehrmals zwangsweise während einer Produktion entzogen wurde, klagt über die Ignoranz der Amerikaner gegenüber der Form des Provisorischen: «Sie interessieren sich nicht für Filmessays. F for Fake ist in Amerika ein Fiasko gewesen und ein grosser Erfolg im Ausland. Ich werde weiter das versuchen, was ich in F for Fake schon entwickelt habe - und ich hoffe, dass die Epoche der Videokassetten es ermöglichen wird, direkt zum Publikum zu sprechen. Es ist diese Art von Filmen, die ich mehr als alles andere machen möchte. Ich glaube, F for Fake war einer der aufrichtigsten Filme, die ich je gemacht habe. [...] Man betrachtet ihn in Amerika - anders als in Europa - als ein kleineres, unbedeutendes Werk.»30 Tatsächlich ist dieser Film als französisch-iranische Koproduktion entstanden und wurde illustrerweise mit Geldern einer Firma finanziert, die dem persischen Schah gehörte.31 Auch Welles’ letzter vollendeter Filmessay Filming Othello entstand nur, da er von einem deutschen Fernsehsender bei Welles in Auftrag gegeben wurde (WDR, produziert von Klaus und Jürgen Hcllwig).
Portrait of Gina, den weder Bazin noch Bogdanovich, noch Krohn bei ihren Interviews mit Welles gesehen hatten, ist im Gegensatz zu den zahlreichen so genannten Weiles-Filmen, die heutzutage aus seinen hinterlassenen Materialien fertig gestellt werden, immerhin zu Ende produziert worden und existiert. Das Schicksal dieses Films ist jedoch bis heute von Nichtauswertung und Ignoranz geprägt: Vom Fernsehsender CBS nicht abgenommen, kann der Film auch anderweitig nicht verkauft werden, die geplante Sendereihe Orson Welles at Large wird eingestellt. Die offenbar einzige Kopie des Films vergisst Welles 1958 im Pariser «Hotel Ritz». Das unbeschriftete Material kommt ins Fundbüro des Hotels, später in abgelegene Lagerräume, und wird niemals nachgefragt. Der Film gilt als verschollen und wird von der Filmforschung so vollständig ignoriert, dass er in den meisten Büchern über Welles gar nicht erst erscheint. Im besten Fall heisst es, wie im Anmerkungsapparat der englischen und der deutschen Ausgabe von Bazins Buch über Welles: «Portrait of Gina wurde nie fertig gestellt.» Ende 1985 bei einer Feier in den Räumen der Pariser Firma Atlantic Films zufällig wieder entdeckt, wird er in der Sendereihe Cinéma Cinémas in Ausschnitten gezeigt (Antenne 2, 15.4. 1986) und im September 1986 vollständig auf dem Festival von Venedig aufgeführt.32 Die eingeladenc Gina Lollo- brigida, offenbar wenig erfreut über das wieder aufgetauchte Porträt, bittet den Filmbesitzer, weitere Aufführungen zu unterlassen.33 Die mit der internationalen Auswertung beauftrage Firma verkauft den Film 1991 an das ZDF in Mainz, das die vollständige Version mehrmals ausstrahlt.34 Bis heute sind diese Ausstrahlungen die einzige Präsentation des Films geblieben, offenbar auf Bitten von Gina Lollobrigida. Ihre Gründe liegen aber sicher nicht, wie vermutet worden ist, im ungehörigen Ausbreiten ihrer Steuerprobleme: Sachinformationen dazu liessen sich einfach den Zeitungen entnehmen, unter anderem, dass Gina 1962 «ihren lange währenden Prozess gegen die Staatskasse verloren hat und beträchtliche Steuern für die Jahre 1957 und 1958 nachzahlen muss.»35 Welche Gründe sind es wohl, die gegen eine Wiederautführung von Portrait of Gina sprechen?36