Ein Brief seines 1990 verstorbenen Grossvaters weckte die Neugier des Filmemachers und Theaterpädagogen Stefan Haupt. «Liebe Kathrin» lautete die Anrede - ein Name, den Haupt bis anhin noch nie gehört hatte. Es handelte sich dabei um die nach Kanada ausgewanderte Schwägerin des Grossvaters, die Haupt für dieses filmische Projekt inspirierte. Eine aufwändige Recherche über die eigene Familienvergangenheit sowie die Konfrontation mit der «wieder aufgetauchten» Kathrin entfaltet Haupt in einem vielschichtigen Dokumentarfilm.
Dabei ging er chronologisch vor: Kathrin Schäpper kam 1907 in Grabs im Sankt Galler Rheintal als uneheliches Kind zur Welt. Als ihre Mutter im Alter von sechs Jahren an Tuberkulose starb, fand die Vollwaise in der Werdenbergischen Erziehungsanstalt, einer «Rettungsanstalt für verwahrloste Kinder», Unterschlupf. Kathrin verliebte sich in Werner, den Sohn des angesehenen Hausvaters der Anstalt. Doch die Liebe wurde von den Heimeltern nicht geduldet. 16-jährig zog Kathrin nach Basel, wo sie zunächst als Küchenhilfe im Bürgerspital arbeitete und später unter unwürdigen Bedingungen den Haushalt einer reichen Familie erledigte. Werner emigrierte nach Kanada; zu einem Abschied am Bahnhof kam es nicht mehr. Nach fünf Jahren Funkstille erhält Kathrin einen Brief, in dem Werner sie auffordert, ihm nach Kanada zu folgen und ihn zu heiraten. Kathrin zögert nicht: Am selben Tag entschliesst sie sich für die Emigration. In Kanada fängt die nun 21 -Jährige ihr zweites Leben an - sie wird Farmerin und Mutter von neun Kindern.
Haupt wechselt früh den subjektiven Standpunkt und lässt die persönlich motivierte Geschichte von einer Erzählstimme begleiten: Das Porträt eines Individuums wird zur Zeitgeschichte einer Auswanderernation. Doch geht die Stimme von Kathrin Engeier-Schäpper nie verloren. Haupt wechselt geschickt zwischen objektiven Dokumenten, alten Fotos und Filmaufnahmen, mit denen er sich an die damaligen Lebensumstände annähert, und den ergreifenden, sehr persönlichen Erzählungen der mittlerweile 91-jährigen Kathrin Engeier. Ihr Alltag, ihre Familie auf dem neuen Kontinent werden demjenigen ihres Schweizer Patenkinds, dem sic in den Fünfzigerjahren ihren letzten Besuch widmete, gegenübergestellt. Die zurückhaltende Kameraführung und der ruhige Rhythmus stehen in Kontrast zur aufwühlenden Geschichte.
Die Stärke von Haupts Dokumentarfilm ist seine Mehrschichtigkeit: Er erzählt einerseits Sozialgcschichte aus einer Zeit, in der die Schweiz ein starkes soziales Gefälle aufwies und viele ihr Glück in offeneren Gesellschafts-Strukturen auf dem amerikanischen Kontinent suchten. Andererseits ist es eine bezaubernde, sehr individuelle Liebesgeschichte einer Frau, deren unscheinbare Lebensführung sich als pionierhafte Leistung herausschält.