Historische Spurensuche über die filmische Bearbeitung literarischer und autobiografischer Dokumente: So könnte man Richard Dindos Arbeiten der Neunzigerjahre auf eine Formel bringen. In Charlotte: «Vie ou théâtre»? (1992) thematisierte er die Judenverfolgung anhand des malerischen Œuvres Charlotte Salomons. In Ernesto «Che» Guevara - Das bolivianische Tagebuch (1994) rekonstruierte er Ches Kriegs- notate aus dem bolivianischen Dschungel und realisierte eine Passionsgeschichte mit Symbolkraft für eine ganze Generation politischer Aktivisten. Une saison au paradis (1996) basierte auf autobiografischen Schriften des südafrikanischen Dichters Breyten Breytenbach und behandelte die Apartheid. In Genet à Chatila nun bildet Jean Genets letztes Buch Le captif amoureux den Ausgangspunkt. Gegenstand ist ein weiterer Schlüsselmoment der Geschichte aus engagierter Perspektive: die Massaker, die libanesische Christenmilizen im September 1982 unter mutmasslicher Duldung der israelischen Invasionstruppen in den Palästinenserlagern Sabra und Chatila am Stadtrand von Beirut anrichteten.
Wie schon Une saison au paradis ist Genet à Chatila zunächst ein Film über ein Buch. Leila Shaid, eine palästinensische Freundin Genets, hatte den Schriftsteller 1982 nach Beirut eingcladen. Kurz nach seiner Ankunft fanden die Massaker in Sabra und Chatila statt, und Genet war der erste Europäer, der die Stätten des Verbrechens aufsuchtc. In der Folge schrieb er zunächst einen Artikel für eine palästinensische Zeitschrift in Paris, verarbeitete seine Erfahrungen dann aber zu einem Buch. Thema sind die Massaker, aber auch Genets Zeit in Amman Ende der Sechzigerjahre, als er mehr als zwei Jahre mit palästinensischen Freiheitskämpfern zusammenlebte.
Dindo rekonstruiert Genese und Gegenstand des Buches, indem er die junge Algerierin Mounia Raoui in der Rolle der nachgeborenen Leserin an die verschiedenen Schauplätze begleitet. Sie sucht das Hotelzimmer auf, in dem Genet seine letzten Lebensjahre verbrachte und sein letztes Buch schrieb, sie befragt Augenzeugen und Überlebende des Massakers in Beirut, und sic sucht in Amman alte Bekannte Genets auf. Einige Momente wirken allzu melodramatisch, etwa wenn Raoui mit einer Überlebenden in Chatila spricht und ihre Anteilnahme in einem Reaction shot eingefangen wird. In dieser Szene bemüht sich Dindo zu stark um eine Anbindung der Mittlerfigur an den Stoff. Unnötigerweise, denn sie erfüllt ihre Funktion bereits durch ihre blosse Anwesenheit: Sie verkörpert jene spannungsvolle Gleichzeitigkeit von Distanz und Nähe, von faktischer Unbeteiligtheit und solidarischer Anteilnahme, die auch Dindos Umgang mit Geschichte kennzeichnet und seine Integrität ausmacht.