«Nach aussen hin sieht alles rosig aus, aber das ist es nicht. Es verbirgt sich viel physischer und seelischer Schmerz dahinter.» Die ältere Frau, die das sagt, lebt in einer jüdischen Rcntnersiedlung von Holocaust-Uberlebenden im Hinterland Floridas. Dieses Wohngebiet wird von den Bewohnerinnen selbst als «Warteraum Gottes» bezeichnet. Aus den Lagern in die Vereinigten Staaten gekommen, arbeiteten sie ihr Leben lang hart, um sich eine neue Existenz aufzubauen. Viele von ihnen nehmen sich erst heute zum ersten Mal die Zeit, um sich mit ihrer Vergangenheit auseinander zu setzen. Dies geschieht in einem sicheren Rahmen: An der einzigen Zufahrt, die von Videokameras überwacht wird, kontrolliert ein Sicherheitsbeamter die Autos; die Siedlung ist von einer Mauer umzäunt. In dieser grünen und sauberen Zone werden vielfältige Unterhaltungsmöglichkeiten angeboten: Man trifft sich beim Golfspiel, Aerobic oder gemeinsamen Mundharmonikaspiel. Die rund 9500 Einwohnerinnen der Siedlung fühlen sich hier wie im Paradies. Vor allem sind sie aber unter Menschen, die dieselben Erfahrungen gemacht haben: Man weiss, dass der Schaden, der zugefügt wurde, irreparabel ist. In diesem Bewusstsein bilden die Holocaust-Uberlebenden eine grosse Familie, die sich im Emerald Club zusammengeschlossen hat. Hier geht man gemeinsamen Aktivitäten nach und unterstützt sich gegenseitig.
Stefan Schwietert und sein Kameramann Matthias Kälin beobachten in sorgfältig ausgewählten Kadragen den Alltag dieser Rentnerinnen und lassen sie in erster Linie über ihr heutiges Leben reden. Und doch ist der Holocaust in dieser heilen Welt allgegenwärtig: Ob beim Pingpong-Spielen, beim Coiffeur oder beim Bettenmachen - der schwierige Umgang mit der Vergangenheit kommt immer wieder zur Sprache. Viele haben mehrmals in der Woche Alpträume, die meisten schlucken Antidepressiva. Die «Überlebensschuld» ist allgegenwärtig, auch wenn sie nie ausgesprochen wird. Ein Mann erzählte seinen Kindern erst zwei Jahre vor den Dreharbeiten, dass er Holocaust-Überlebender ist, während ein anderer in Schulklassen geht, um seine Erfahrung weiterzuvermitteln. Als der Vater einer Opernsängerin anlässlich eines Auftritts seiner Tochter nach Deutschland fuhr, machte er innert acht Stunden das damalige Grauen noch einmal durch: Es sei wie eine Therapie für ihn gewesen, seither gehe es ihm besser.
Schwietert kam durch seinen letzten Film A Tickle in the Heart (1996) über die Klezmer- musik spielenden Epstein-Brüder auf die Bewohner der Siedlung. In seinem neusten Dokumentarfilm interessiert er sich dabei vor allem für die Frage, wie die Erinnerungen das heutige Leben der Überlebenden bestimmen und wie mit ihnen umgegangen wird. Dabei ist es ihm gelungen, das Porträt einer Welt zu zeichnen, die sich zwischen den Polen der äusseren Idylle und des inneren Schreckens bewegt. Beeindruckt ist man von der Lebenskraft dieser Menschen. Wie ein Mann im Interview sagt: «Ich glaube, die Überlebenden hatten nicht einfach Glück. Sie müssen auch einen besonderen Lebenswillen gehabt haben, einen Überlebenswillen.»