DORIS SENN

ABER AUCH ICH (URS WÄCKERLI)

SELECTION CINEMA

«Wir sind nicht geistig behindert, wir sind ein­fach anders als die so genannt Normalen.» Das Statement von Andi Wittwer, Schauspieler des Theaters Hora, sagt einiges über das Bewusst­sein Betroffener aus, die einer Randgruppe angehören, und vieles über «Labels», die Ein- und Ausgeschlossensein implizieren. Dazu­gehören, wahrgenommen werden ist zentrales Thema im Theaterstück Ansehen - oder gseesch mit, basierend auf Chaplins Citylighls, und prägt die Befindlichkeiten der elf Mitglieder des Zürcher Behindertentheaters. Urs Wäckerli, seit 1981 freier Filmemacher für Dokumentar­und Auftragsfilme, porträtiert die Hora-Schau- spielerlnnen in ihrem Arbeitsalltag, er hat sie über ihre Erfahrungen mit dem Theater spre­chen lassen, sie zu Lebensgefühl und Zukunfts­visionen befragt.

Aber auch ich alterniert Szenenausschnitte aus der Bühnenaufführung (in Schwarzweiss) und die persönlichen Äusserungen der Behin­derten (in Farbe). Sind die Theatersequenzen leider etwas zu lang geraten, besticht der Film in erster Linie durch die Offenheit der Inter­viewten und verblüfft durch deren Selbstrefle­xion: Die gesellschaftliche Diskriminierung wird in empfindlicher und schmerzhafterweise immer wieder bewusst wahrgenommen. Sie spüren, dass sie mit der Schnelligkeit der «an­deren» nicht mithalten können, und wünsch­ten sich dabei nichts sehnlicher, als wie die «Normalen» zu sein - sei es, was das selbst­ständige Wohnen anbelangt, sei es, einen Part­ner, eine Partnerin zu haben, sei es, als gleich­wertiger Mensch behandelt zu werden. Dazu gehört auch, Liebe und Sexualität zu leben. «Jeder Mensch braucht Liebe, aber auch ich!», bringt es Andi auf den Punkt. Andi lebt seine Bedürfnisse nach Nähe und Geborgenheit mit seinen Busseltieren (Plüschtieren), Susanne wartet auf «den Richtigen», René schläft mit seiner Freundin und geniesst es, nachdem es mit seinen vorhergehenden Partnerinnen nie recht klappen wollte. Ruth und Rolf schlagen sich mit den - üblichen - Paarproblemen he­rum: mit dem Ausbalanciercn zwischen Nähe und Distanz, dem Akzeptieren der Persönlich­keit des /der anderen.

Hie und da blitzen traumatische Erinnerungen aus der Lebensgeschichte auf: ein He­ranwachsen ohne Familie, sexuelle Ausbeu­tung, Heimerfahrungen. Allerdings sind die Andeutungen vereinzelt, und im Vergleich mit dem 1997 entstandenen Die Regierung von Christian Davi über die gleichnamige Behinderten-Band bleiben die Kenntnisse über die einzelnen Persönlichkeiten fragmentarischer. Dafür wurde dem Thema Sexualität und Beziehungsleben mehr Platz eingeräumt.

Nach ihren Erfahrungen mit dem Theater befragt, zeigt sich, wie wichtig für alle Beteilig­ten das Spiel, dieser Schritt ins Rampenlicht der Öffentlichkeit ist. Desillusioniert müssen die Hora-Mitglieder aber andererseits auch feststellen, dass das Theater ihr Leben grundsätz­lich nicht verändert hat und es durch die Aufführungen von Hora auch nicht gelungen ist, die Gesellschaft offener und toleranter zu machen, die Grenzen auszulöschen, mit denen sie weiterhin leben müssen.

Doris Senn
Freie Filmjournalistin SVFJ, lebt in Zürich.
(Stand: 2021)
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