MERET ERNST

«VON DEN BUNTDRUCKPLAKATEN MUSS BLUT TRIEFEN!» — WIRKUNGSÄSTHETIK IN DER WERBUNG FÜR DEN DEUTSCHEN STUMMFILM

ESSAY

Auf den kommerziellen Nenner gebracht, ist Kino dann erfolgreich, wenn Filme Gewinn bringend ausgewertet werden - wenn sie mit Schwung von der Spirale Publikum, Multiplikatoren und noch mehr Publikum in die Gewinn­zone gehoben werden. Über Publikumszahlen zu berichten, den Prüfstein des kommerziellen Erfolgs, fällt allerdings schwer, richtet man den Blick auf die Jahre des frühen Films - zum Beispiel in Deutschland. Nur fragmentarisch ist Grösse und Struktur des damaligen Kinopublikums überliefert. Ein zweiter, indirekter Massstab für den kommerziellen Erfolg eines Films ist die Etablie­rung von Genres. Genre-Filme belegen nicht nur die Eust an einem Kino, das die immergleichen Geschichten erzählt. Sie ermöglichen es auch, das Risiko des Neuen zu minimieren und den Einzelerfolg zu wiederholen. An beiden Merk­malen ökonomisch erfolgreicher Filmproduktionen, dem Publikumserfolg wie der Herausbildung von Genres, hat die Filmwerbung ihren Anteil: Sie ist es, die das Publikum in die Kinos lockt, und sie festigt die rezeptionsleitenden Genre-Zuschreibungen. Beide Erfolgskriterien haben mit der Durchsetzung wirkungsvoller Werbestrategien und den im öffentlichen Raum sichtbaren Werbebildern zu tun.

Die Diskussion über die Filmwerbung, wie sie in den Zehner- und Zwan­zigerjahren in Deutschland geführt wurde, basierte auf dem festen Glauben an die Wirkungsmacht der Werbung, über die zur gleichen Zeit intensiv nach­gedacht und eifrig publiziert wurde. Beteiligt haben sich am Diskurs über die Filmwerbung Kinobesitzer und Filmproduzentcn, Plakatgestalter und Plakat­liebhaber, Soziologinnen, Zensurbeamte und Reklamefachleute, Filmreformer, Lehrerinnen, Literaten und andere mehr. Verhandelt wurde, was die damalige Werbung für das Kino erfolgreich machte, welche «Propaganda», wie damals auch die Produktewerbung bezeichnet wurde, als gut und wirksam, welche als schlecht und verfehlt galt. Gar scheint es, als sei über die Filmwerbung ebenso ausgiebig diskutiert worden wie über die Filme selbst. Unterschwellig aber spricht aus vielen Äusserungen die Beunruhigung über die «Bildmaschine Kino» und deren gesellschaftliche Auswirkungen, über das moderne Medium, das seinen Platz im Gefüge der Unterhaltungsindustrie gerade erst gefunden hatte. Die Beschäftigung mit der Werbung für das neue und sich stets neu erfin­dende Kino kann in diesem Sinne als früher Beitrag über filmische Wirkungs­ästhetik verstanden werden.

«Ergreifende bunteste Plakate»

Die Werbung für den deutschen Stummfilm hing von der Entwicklung des Kinos1 ab, die ihrerseits von vier Faktoren bestimmt wurde: dem Wechsel von der ortsunabhängigen zur ortsfesten Vorführpraxis, der Entwicklung von Ver­kaufs- und Verleihsystemen, der «Nobilitierung» des Kinos und damit der Herausbildung eines bürgerlichen Kinopublikums sowie der Ausdifferenzie­rung filmischer Formen und Genres. Alle vier Faktoren standen in wechsel­seitiger Abhängigkeit.

Das ambulante Kinogewerbe, das in der Nachfolge der beiden Brüderpaare Max und Emil Skladanowsky in Berlin sowie Louis und Auguste Lumière in Paris nach 1895 entstand, führte seine filmischen Attraktionen in Varietes oder als Gastspielbetrieb in gemieteten Sälen und kurze Zeit später auf Jahrmärkten und Messen vor. Filmnummern, die aus bis zu fünfsehr kurzen Filmen zusam­mengestellt wurden, boten im Varicteprogramm eine Abwechslung, die zehn, manchmal bis zu zwanzig Minuten dauern konnte. Nicht nur die Filme waren formal und inhaltlich diesem Umfeld angepasst, auch die spärlich überlieferten Werbemittel für dieses frühe Kino übernahmen die Spielregeln des Jahrmark­tes: «Mit der Schaubude, die auf Messen und Märkten umherzog, und vor der ein starkstimmiger Ausrufer auf die sehenswerten Darbietungen hinwies, fing es an. Diese Art von Reklame genügte vollauf: auch ohne sie wären diese Stät­ten eines ungewohnten Vergnügens, wo sie erschienen, überfüllt gewesen.»2 Was Tom Gunning 1986 in Wide Angle als «Cinema of attractions» definierte, bezeichnet ein Kino, das seine Berechtigung nicht aus dem Erzählen einer kom­plexen Geschichte gewann, sondern aus dem Akt des Zeigens. Ähnliches galt für die Werbung für solche Unterhaltung, die in der Hand der Produktions­gesellschaften lag. Viele der undatierten Plakate, die dem Zirkusplakat und den Chromolithografien des 19. Jahrhunderts verwandt sind, warben nicht für ein­zelne Filmtitel, sondern für die Produktionsgesellschaften und deren Angebote. Früheste Filmplakate zeigten Sujets, die von den Filmherstellern in unzähligen Variationen auf den Markt kamen. Ihr Reiz liegt in der Konzentration auf ein­zelne Attraktionen, die ohne Anspruch auf eine Dramatisierung oder Psycho­logisierung der beteiligten Figuren auskommt - der Feuerwehrwagen, ein Box­ring, die Zugseinfahrt, Akrobaten.

Die Phase, in der die Attraktion und die Neuheit des Mediums für Erfolg garantierten, war jedoch kurz. Umso mehr musste die im Rückblick von Wcrbefachleuten als unprofessionell diskreditierte Filmreklame verbessert werden. Zudem setzte mit den ersten ortsfesten Ladenkinos, die in Deutsch­land um 1904/05 eröffnet wurden, bald eine regelrechte Kinowelle ein. Damit wurde die Produktion von Kurzfilmen gefördert, die nun zwischen drei und zehn Minuten dauerten und die, zu Kurzfilmprogrammen zusammengestellt, in den neuen Sälen vorgeführt wurden. Die Kinobetreiber dieser ersten orts­festen Kinos, die keiner Konzessionspflicht unterstellt waren, schmückten die Fronten mit Schildern und Werbetafcln. Die improvisierte Einrichtung eines Ladenkinos war erst mit der entsprechenden Fassadenreklame komplett: «Nun noch eine glänzende Beleuchtung über diesem Eingang mit - dem Schwierigs­ten der ganzen neuen Industrie dem neuen Namen des Hauses, darunter ergreifende bunteste Plakate, - und siehe: das Kinotheater war geboren.»3

Im Rückblick beklagten sich auch die dem Kino durchaus wohlgesinnten Geister über die frühe Filmwerbung: «Die Zeit ist noch kaum vergangen, in der diese Geschmacklosigkeiten an den Eingängen der Lichtbildtheater und an den plakatbeklebten, fahrenden Reklamewagen jedes Strassenbild grausam ver­unstalteten», schrieb 1914 der Mannheimer Jurist, Kinoliebhaber und frühe Filmtheoretiker Herbert Tannenbaum.4 Die Plakate hätten noch die Rohheiten des damaligen Kinos übertroffen, mit der Folge, dass das «gebildete Publikum» abgeschreckt worden sei und die Zensur auf den Plan gerufen wurde. Der Weg des Kinos in die bürgerliche Respektabilität war weit, und ein werbemässig überzeugender Auftritt sollte ihn verkürzen - auch deshalb, weil die stetig ex­pandierenden Kinotheater sich gegenseitig konkurrenzierten.

Im Gegensatz zur Werbung für die Kurz- und Kürzestfilmprogramme, die vor allem in Inseraten und in einfachen Schriftplakaten mit suggestiven Film­titeln sowie mit rezeptionslcitenden Zusätzen wie «komisch», «zum Totlachen» usw. warb, spiegelte sich in der Werbung der nach 1910/11 produzierten Lang­filme die zunehmend komplexer und vielfältiger werdende Erzählhaltung. Das Verleihsystem passte sich an die neuen Rezeptionsgewohnheiten an: Wurden zu Programmen zusammengestellte Kurz- und Kürzestfilme im so genannten Terminfilmsystem gehandelt, in dem die Filme sozusagen auf Bestellung der Kinobetreiber hin produziert und auf den Markt gebracht wurden, so konnten längere Filme nun als Monopolfilme verliehen werden. Dieses erste, syste­matisch auf einen einzelnen Film zugeschnittene Verleihmodell markiert den Übergang zum modernen Filmhandel, basierend auf der 1908 erneuerten Ber­ner Übereinkunft zum Schutz des geistigen Eigentums. Das System gründet auf der Vergabe von Auswertungsrechten des Produzenten an einen Verleiher, der diese an den Kinobetreiber weiterverkaufte, so dass ein vertragsrechtliches Monopol der örtlich und/oder zeitlich begrenzten Erst- oder Alleinaufführung entstand. Das Monopolsystem förderte das Interesse an der Qualität eines Films, denn die Filme konnten länger und profitabler ausgewertet werden, je grösser das Interesse des Publikums war.5 Die von Frankreich übernommene Idee des so genannten «Kunstfilms» - 1909 wurden in Deutschland französi­sche «films d’art» gezeigt - kann als medienästhetische Flucht nach vorne einer in die Krise geratenen Filmindustrie bezeichnet werden. Der den Monopol­filmen vorauseilende Ruf, künstlerisch wertvoll zu sein, wurde als Argument auch in der Branchenwerbung eingesetzt: Der Autorenfilm Der Andere (D 1913) «[...] lenkt die Kinematographie in neue Bahnen. Dieser Film dient wie kein anderer in höchstem Masse zur Hebung unserer Branche, und Sie sind es dem Renommé ihres Theaters schuldig, sich den Film sofort zu sichern, ehe Ihnen die Konkurrenz zuvorkommt. - Deshalb setzen Sie sich so bald wie möglich mit mir in Verbindung», warb ein Braunschweiger Filmverleiher 1913 in der Ersten Internationalen Film-Zeitung. Zugleich löste der Monopolfilm eine entscheidende Weiterentwicklung der Filmwerbung aus, die nun auf die Vermarktung eines einzelnen Films und auf einzelne, bald schon zum Star auf­steigende Schauspielerinnen wie zum Beispiel Henny Porten und Asta Nielsen zugeschnitten wurde.

Der Monopolvcrleih ermöglichte auch, dass Filme eine Uraufführung oder eine festliche Premiere erhielten. Erstaufführungen wurden in den prächtigen Lichtspieltheatern zu Ereignissen ausgebaut, auf die sich die Werbung beziehen konnte. Die Werbeverantwortlichen beauftragten renommierte Grafiker für die Plakatgestaltung. Ihre qualitativ hoch stehenden Entwürfe sollten nicht zuletzt allfälligen Zensurbestrebungen zuvorkommen. Die Plakate waren zudem sig­niert, was die vordem so verachteten Filmplakate zu eigentlichen Künstler­plakaten erhob: «Und wie man beim Geschäftsmann aus der Art seiner Re­klame auf seine Geschäftsgebarung schliessen wird, so wird das künstlerische Theater- und Kinoplakat die Meinung auslösen, dass man es hier mit einem künstlerisch hochwertigen Unternehmen zu tun hat.»6

«Wenn sie sich küssen, bekommt man Angst, dass der Film Feuer fängt»7

Dem Wunsch nach Respektabilität der Filmwerbung stand das Ziel einer jeden Werbeanstrengung entgegen, möglichst viele potenzielle Käufer zu erreichen. Um die optimale Werbewirkung zu definieren, wurden die Werbemittel unter funktionalen und ökonomischen Gesichtspunkten beschrieben, und bald wa­ren für jedes Werbemittel entsprechende Leitlinien formuliert. Das statische Werbemittel Plakat, so hiess es, «[...] bleibt an einer Stelle stehen und wartet ab, wer an ihm vorbeigeht und es beachtet: wie eine Krake auf dem Meeresgrunde, die sich nicht rühren und nicht auf Fang ausgehen kann, und die dafür ihren grossen Rachen so weit aufsperrt, dass die Opfer von selbst hineinschwimmen.»8 Als solches bot es allerdings, so der Werbefachmann Hermann Behrmann weiter, unter den verschiedenen Werbemitteln auch die geringste Treff­sicherheit. Deshalb müsste genau überprüft werden, «[...] welcher Art der Menschenstrom ist, der dort flutete, und so wenigstens eine ganz grobe Auslese der zu bestreichenden Menschenschichten zu treffen.» Hielt man die Chancen für gross, dass ein Plakat in den Geschäftsquartieren ein kaufkräftiges Pub­likum erreiche, so galten anderseits die Menschen in diesen Bezirken als zer­streuter. Litfasssäulen eigneten sich für gut eingeführte Markenprodukte, die nur mehr den Passanten in Erinnerung gerufen werden mussten. Zugleich hingen dort auch Plakate aus, welche «[...] die wenigen Interessen aus der Masse auslesen [wollen], die auf andere Weise nicht ausgelesen werden kön­nen.» In dieser Funktion weckte das Plakat die Nachfrage und «[...] arbeitet der Reklame mit den treffsicherer arbeitenden Werbemitteln vor.»9

Neben der theoretischen Frage nach dem besten Wirkungsgrad der Re­klame, die noch kaum durch statistische Erhebungen beantwortet wurde, ver­suchte man auch mit gestalterischen Mitteln, die Werbeaussage zu optimieren. Für die Filmwerbung bedeutete das in erster Finie, die Beziehung zwischen Werbeplakat und Inhalt des Films wirkungsvoll umzusetzen. Zwei produk­tionsästhetische Möglichkeiten standen den Filmplakatgestaltern offen, um auf den Film zu verweisen: die zeichnerische Umsetzung eines Standbilds oder aber die freie Synthese von unterschiedlichen Erzählmomenten in ein Bild - meist ebenfalls ausgehend nicht vom Film, sondern von Werbematerial und Standbildern. Beide Typen jedoch ordneten sich dem Grundsatz unter, wonach Filmwerbung zwar rezeptionsvorbereitend, aber nicht vorwegnehmend sein sollte. Dass das Plakat «den Beschauer nicht sättigen» dürfe, um eine optimale Werbewirkung zu erlangen, war auch von den Plakatgrafikern akzeptiert.10

Einen weiteren, bildästhetischen Grundsatz brachte ein Kinobetreiber aus Leipzig auf den Punkt, dessen Aussage in der renommierten Fachzeitschrift Plakat mit Schaudern kolportiert wurde: «Die Hauptsache ist: Für alle Filme recht reichhaltiges Reklamematerial. Von den «Buntdruckplakaten muss Blut triefen!»11 Der wirksame Kitzel von Gewalt, Verbrechen und Sexualität auf dem Filmplakat brachte den Ruf nach Zensur hervor. Im Kampf gegen den «zersetzenden Schund» bekämpften die Zensurbehörden zu blutige Bild­motive. Der mehrfach geäusserte Regelungsbedarf, der aus heutiger Sicht an­gesichts der verwendeten Bildmotive nur mehr schwierig nachzuvollziehen ist, belegt zweierlei: Zum einen macht er deutlich, dass die Filmwerbung vielen als obszön und transgressiv erschien. Zum andern ist er Ausdruck dafür, wie stark die Wirksamkeit der Filmwerbung in der städtischen Öffentlichkeit sowohl von den Zensurbehörden wie den hoffnungsfrohen Werbefachleuten über­bewertet wurde.

Der Gemeinplatz, wonach eine krude Darstellung von Sexualität und Ver­brechen auch auf die zufällig Vorbeigehenden moralzersetzend wirken würde, liess es angebracht erscheinen, die Plakatwerbung und vor allem die Film­plakate einer behördlichen Kontrolle zu unterwerfen. Nicht nur unzüchtige Motive, auch die bunten Farben, das geschützte Strassenbild und die Gefähr­dung des Verkehrs galten als möglicher Zensurgrund.12 In der Praxis stellte die «Wirkungsmacht» dieser Werbung den zentralen Grundsatz dar. Die Orts­polizei wurde aufgefordert, in der Ausübung ihres Zensurauftrags nicht etwa nach subjektiven oder ästhetischen Gesichtspunkten den einzelnen Plakataus­hang zu bewerten, sondern die intendierte «Wirkung» als ausschlaggebend zu berücksichtigen. Die Auftraggeber und Plakatgestalter hatten sich danach zu richten. So gab es immer wieder Fälle, in denen auf das Werbeargument bar­busiger Damen oder nackter Knaben verzichtet und die inkriminierten Stellen nachträglich abgedeckt werden mussten. Als Teil der Plakatwerbung waren Filmplakate zudem unzähligen gesetzlichen Bestimmungen und Verordnungen polizei-, zivil- und strafrechtlicher Art unterworfen, die je nach Städten und Länder unterschiedlich ausfielen.13 Die Diskussion über die Zensur war ent­sprechend durch juristische Unsicherheiten geprägt.

1912 arbeitete das preussische Innenministerium Richtlinien für eine gute Filmreklame aus.14 Zwei Jahre später attestierte der Verein der Plakatfreundc den Behörden ein massvolles Vorgehen, zumindest was das künstlerisch gestal­tete Plakat betraf, an dessen Verbreitung dem Verein vor allem gelegen war. Am 13. Juli 1916 erschien in der Berliner Tageszeitung eine Bekanntmachung des Berliner Polizeipräsidiums, welche die Strassenreklame für Kino- und Variete­darstellungen einschränkte: «Abbildungen von Verbrechen, Gewalttätigkeiten und sonstigen schreckenerregenden Dingen sowie sittlich anstössige Bilder als Lockmittel» wurden allgemein verboten. Plakate für öffentliche Schaustel­lungen durften nur noch an Litfasssäulen und den Veranstaltungsorten an­geschlagen werden. Filmprogramme mussten behördlich angemeldet werden, es durften keine zensurpolizeilich verbotenen Filme angekündigt und keine Reklameplakate an der Kinofassade für Filme angebracht werden, deren Be­such Kindern untersagt war.15

Die Schuld an den ästhetischen Missgriffen auf den Filmplakaten wurde unter anderem auch den Kinobetreibern in der Provinz zugeschoben, die «noch ungebildeter als deren Publikum» nur auf das schnelle Geld schielen würden. Ebenso verantwortlich hielt man auch die «Besteller der Kinoplakate, die Lei­ter der Filmgesellschaften. Denn: Das Kinotempo, das im Film sehr angebracht sein mag, darf nicht von dem Künstler bei der Ausführung des Plakats verlangt werden.»16 Die Kinoreform- und in ihren Fussstapfen die Plakatreformbewe­gung zogen in erster Linie gegen diejenigen Plakate los, die in ihren Augen ebenso blutrünstig wie die Filme selber für ein zweifelhaftes Vergnügen in dunklen Hinterhofräumen warben.

Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs hob der Rat der Volksbeauftragten im Zug der Novemberrevolution jegliche Zensur auf, auch die des Kinos. Eine Welle von «sozialhygienischen Filmwerken» überschwemmte die Leinwände. Filme mit Titeln wie Die Prostitution (Richard Oswald, D 1919) lockten trotz ihres aufklärerischen Anspruchs ein zahlreiches und vor allem vergnügungswilliges Publikum in die Kinos. Im Frühling 1920 wurde im Kampf gegen die «missliche Situation» das Lichtspielgesetz von der Nationalversammlung fast einstimmig angenommen - trotz der Drohung von Seiten der Filmindustrie, die «verklemmten» und «rückständigen» Verhinderer öffentlich zu denunzieren. Mit dem Gesetz beabsichtigte die Nationalversammlung nichts weniger, als das Lichtspielwesen zu einem, wie es hiess, Volksbildungs- und Unterhaltungs­mittel zu machen. Alle in Deutschland produzierten Filme, ihre Titel, Zwi­schentitel und auch die dazugehörige Werbung mussten wieder der Zensur vorgelegt werden. Zu diesem Zweck wurden in Berlin und in München Film­prüfstellen errichtet, die einer Oberprüfstclle unterstanden. Den Vorsitzenden der Filmprüfstelle unterstützte ein Beirat, der sich zu je einem Viertel aus Kreisen der Filmindustrie, aus «Kennern der Kunst und des Schrifttums», zur Hälfte aus Männern und Frauen aus Bereichen der Volkswohlfahrt und -bildung sowie der Jugendpflege zusammensetzte. Attestiert wurde dieser Prüfstelle von Seiten der Plakatliebhaber, die jeder Plakatzensur kritisch gegen­überstand, zumindest, «[...] dass eine solche Körperschaft Verständnis für Fra­gen der künstlerischen Reklame hat und gerechtere Entscheidungen fällt als die im Wollen einwandfreie, aber im Können berüchtigte Ortspolizeibehörde.»17

«Denn Bild kapiert man mühelos. Das ist die Verlockung des Kinos»18

Die von allen Seiten überschätzte Wirkungsmacht der beiden Medien Film und Plakatwerbung, welche die Zensur überhaupt erst auf den Plan rief, beeinflusste auch die Theoriebildung. Der medienhistorische Zufall, der die Anfänge des Kinos und die Erneuerung der Plakatwerbung in der so genannten Plakatbewe­gung in dieselben Jahre um 1895 legte, wurde bereits 1914 als solcher beschrie­ben. Herbert Tannenbaum sah die Verwandtschaft der beiden Medien Film und Plakat in der Reduktion auf das Sichtbare, in der Zusammenfassung der Hand­lung, woraus das Groteske und gleichzeitig das Monumentale resultiert - Konstituenten, die er sowohl im Stummfilm wie auch in der Plakatwcrbung wiedererkannte.19 Zwei Jahre später erklärte Ernst Collin - einigermassen kulturpessimistisch - diesen Zusammenhang von Kino und Plakat mit der glei­chen Intention der zwei Medien: Beide seien gekennzeichnet von zugkräftiger Effekthascherei: «So hat [das Kino], um sein Publikum anzulocken, diejenigen Plakate am zugkräftigsten gefunden, die des Stückes wirksamste Szenen in einer jeder künstlerischen Schilderung baren Weise darstellten.»20 Gerade das bild­hafte Filmplakat zeugte von einer doppelten Wirkungsabsicht, die ebenso «gefährlich» (laut Zensurbehörde) wie «erfolgreich» (gemäss Werbefachleuten) die Menschen in ihrem Verhalten beeinflussen sollte. Mit solchen Aussagen begann die Debatte über jene visuelle Wirkungsästhetik des Kinos und der Werbung, die den Umgang mit Bildern im 20. Jahrhundert massgeblich prägen sollte.

Die Verwandtschaft zwischen der filmischen und der Werbewirksamkeit wurde auf die Ausdrucksmittel von Film und Werbung zurückgeführt: zum Beispiel auf den visuellen Ausdruck, der im Wegfallen von sprachlicher Artiku­lation als Chance und Eigenart sowohl des Stummfilms wie der Plakatwerbung erkannt wurde. In einem regelrechten Paragone hatte die sich formierende Filmtheorie seit den Zehnerjahren den Wert und die Eigenständigkeit des Stummfilms in der so genannten Kinodramatik-Debatte von 1913/14 gegen Kulturkritiker und Filmfeinde verteidigt. Wurden zuerst die erzählerischen Möglichkeiten des Films hervorgehoben, rückte schon bald die mit einer ver­schärften Abbildproblematik verknüpfte Qualität und die Wirksamkeit des bildlichen Ausdrucks in den Vordergrund. In deren Verlauf wurde der Stumm­film paradoxerweise - trotz des damals im Flackern und Rattern der Projek­toren besonders spürbaren filmischen Apparates! - zum Ausdruck einer Sehn­sucht nach ungefilterter, direkter Lebenswirklichkeit, nach einem Freiraum von rationaler Vermitteltheit. Es entstanden Metaphern wie die der verrätselten Hieroglyphik oder der Bildersprache; beide wiesen auf die dem Stummfilm zugeschriebene Kraft, die Dinge direkt, in eine unvermittelte und naturhafte, weil analoge Bildersprache übersetzt, «sprechen» zu lassen. Die «Sprachferne» des Stummfilms wurde vor allem von denjenigen Theoretikern als Vorzug bezeichnet, die den Film aus der Abhängigkeit von den anderen Künsten wie der Literatur oder dem Theater befreien wollten. In der Praxis wurde allerdings ausgiebig und gerne auf die geschriebene Sprache zurückgegriffen, auch aus ökonomischen Gründen. Einzelne Filme wie Robert Wienes Orlacs Hände (D 1924) bestanden primär aus Zwischentiteln, und es gab Stimmen, die davor warnten, völlig auf Zwischentitel zu verzichten: «Es wird immer ein schlechter Film sein, der gestisch krampfhaft noch Dinge zum Ausdruck bringen will, die sich nur mit Worten sprechen lassen. [Zwischentitel] müssen deshalb als ein vollberechtigtes, künstlerisches Element des Filmwerks behandelt und künst­lerisch ausgebildet werden.»21 Dass die Gestaltung der Zwischentitel ebenfalls eine bewusst hervorgerufene Bildwirkung haben konnte, wurde in Das Cabi­net des Dr. Caligari eindrücklich bewiesen: Die expressionistische Stimmung des Films sollte sich auch in der Gestaltung der Zwischentitel spiegeln. Her­mann Warm meinte im Sonderheft «Caligari» des Illustrierten Film-Kuriers, dass das Publikum lernen werde, auf welche Weise der Expressionismus der «[...] jeweiligen bildlich dargestellten Situation die gewollte Stimmung ein­impft und den Beschauer beispielsweise zwingt, einen Zwischentitel unbewusst so und mit der Betonung zu lesen, wie ihn der Schauspieler auf der Bühne gesprochen hätte.»

«Du musst Caligari werden»

Doch natürlich wurde in der Hauptsache viel pragmatischer über die Werbung für den Stummfilm diskutiert. Die Kraft der Werbung, aus ökonomischen Gründen propagierte Genres zu festigen, wurde zu jener Zeit wohl am deut­lichsten in der Werbung für den expressionistischen Stummfilm deutlich. Zum ersten Mal wurde damit ein Genre auf der Basis von stilistischen Merkmalen definiert - der billig hergestellten, auf Rupfen aufgemalten Ausstattung, die windschiefe Strassenfluchten, geknickte Laternenpfähle oder expressiv ver­zogene Häuserfassaden darstellte. Eine Reihe von Filmplakaten zu diesem zahlenmässig kleinen, historisch wirkungsvollen Genre zeigt, wie prekär das Gleichgewicht zwischen der Vermittlung der Neuheit dieses Genres und der Anknüpfung an bestehende filmische und plakatgrafische Konventionen war. So konzentrierte sich die Plakatwerbung auf die Vermittlung des genretypi­schen Dekors, die in der Filmwerbung vordem zentrale Figurendarstellung dagegen verschwand aus den Plakaten - ein ungewollter Kommentar auf das Problem, das der expressionistische Stummfilm mit der Integration des menschlichen Schauspiels hatte. Auf der anderen Seite war der Auswertungs­druck für diese Filme gross, die in einer kritischen Phase der deutschen Film­produktion entstanden, in der Rezession der Nachkriegsjahre. Der Filmkriti­ker Fritz Olimsky befürchtete 1920, dass der elitäre Stil des expressionistischen Stummfilms am Volk vorbeiziele.22 Umso stärker musste die Werbung das Ver­ständnis für diesen anspruchsvollen Film erst schaffen. Wie sehr der expressio­nistische Stummfilm durch die Vermarktung überhaupt erst als Genre etabliert wurde, lässt sich an der Werbekampagne für den prototypischen Das Cabinet des Dr. Caligari von Robert Wiene verfolgen, der Anfang 1920 in die Kinos kam. Zentral war der neu kreierte Begriff «expressionistischer Stummfilm» durch die Produktionsfirma Decla-Filmgesellschaft. Rätselhafte Plakate, die nichts anderes als die Aufschrift «Du musst Caligari werden» trugen, hingen eine Woche vor der Uraufführung im Berliner Marmorhaus in den Strassen aus; im täglich erscheinenden Film-Kurier setzte sich diese verwirrende Kampagne fort. Erst am Tag der Uraufführung wurde das Rätsel gelöst. Doch bezeich­nenderweise wurde der Begriff «Expressionistischer Stummfilm» schon bald durch die allgemeine Formel «Stilfilm» ersetzt - das Genre setzte sich nicht durch. Folgeproduktionen wie Robert Wienes Decla-Film Genuine, der mit einer ähnlichen Werbekampagne wie Caligari herausgebracht wurde, liess man vorsorglich aus dem eng gesteckten Genre-Raster heraustreten: «Genuine will nicht dem Expressionismus die Leinwand erobern, Genuine ist ein Stilfilm, der neue Ausdrucksmöglichkeiten und weite Perspektiven eröffnet.»23

Mit der Diskussion über die Werbung für den expressionistischen Stumm­film, die den Genre-Aspekt ausgetestet hatte und in diesem Sinn auch die Gren­zen der Filmwerbung belegte, trat eine gewisse Normalität ein: Die Ansprüche an die Plakatgestalter wurden kleiner. Die Künstlergrafik, welche die Respektabilität des Kinos unterstreichen sollte, wich einer routinierten, manchmal besseren, manchmal schlechteren Plakatgrafik. Jan Tschicholds Plakate, die er 1927 für den Münchner Phoebus Palast mit seiner elementaren Gestaltung entwarf, blieben ein Einzelfall. Gelitten hat in dieser Entwicklung allerdings weniger ein sowieso überrissener künstlerischer und ethischer Anspruch an das «Gute Bild», als vielmehr der Glaube an eine unbeschränkte Wirksamkeit von Werbebildern.

Zur Periodisierung der Stummfilmzeit vgl. Corinna Müller, «Variationen des Kino­programms. Filmform und Filmgeschichte», in: dies. / Harro Segeberg (Hgg.), Die Model­lierung des Kinofilms: zur Geschichte des Kino­programms zwischen Kurzfilm und Langfilm 1905/06-1918, München 1998, S. 43-75, hier S.45.

Herbert Tannenbaum, «Kino, Plakat, Kinoplakat», in: Das Plakat 6 (1914), S. 236- 246, hier S. 236.

Hans Schliepmann, Lichtspieltheater. Eine Sammlung ausgeführter Kino-Hauser in Gross- Berlin, Berlin 1914, S. 8.

Tannenbaum (wie Anm. 3), S. 238. - Tan­nenbaum verfasste 1913 eine Doktorarbeit über «Kinematographisches Urheberrecht». Zu Tannenbaum vgl. Helmut 11. Diederichs (Hg.), Der Filmtheoretiker Herbert Tannenbaum, Deutsches Filmmuseum Frankfurt am Main, 1987.

Edwin H. Weinwurm, Der Filmverleih in Deutschland, Diss. Berlin, Friedrich-Wil- helms-Universität, 1931, S. 7.

Ernst Collin, «Hat die künstlerische Re­klame überhaupt Zweck?», in: Das Plakat 4 (1919), S. 290-296, hier S. 296.

Béla Balàzs, «Der Graf von Charolais» (1922), in: Béla Balàzs: Schriften zum Film, Bd. 1: Der sichtbare Mensch, Kritiken und Aufsätze 1922-1926, hg. von Helmut 11. Die­derichs / Wolfgang Gersch / Magda Nagy, München 1982,8. 158 f.

Hermann Behrmann, Reklame, Berlin 1923, S. 186 f.

Behrmann (wie Anm. 8), S. 187.

Paul Davidson, «Das Plakat», in: Leit­faden für Filmreklame, Berlin o.J. [1924], o. S.

Anonym, «Der blutdürstige Kinomann», in: Das Plakat 3 (1916), S. 155.

Flans Heinrich Bürgner, «Verbotene Pla­kate», in: Das Plakat 1 (1914), S. 21-34, hier S. 27.

Zu den juristischen Debatten vgl. Johan­nes Kamps, Plakat, Münster 1999, S. 31-34.

Verein Deutscher Reklamefachleute, «Das Kientopp-Plakat», in: Mitteilungen des Vereins der Plakatfreunde 3 (1912), S. 130.

Vgl. dazu die Vorbemerkung des Heraus­gebers Hans Sachs zu Ernst Collin, «Film­reklame und Reklamefilm», in: Das Plakat 5/6 (1916), S. 236-245.

Collin (wie Anm. 15), S. 237 f.

Hans Sachs, Schriften über Reklamkunst, hg. vom Verein der Plakatfreunde (Handbücher der Reklamekunst, 3), Berlin 1920, S. 481.

18Carlo Mierendorff, «Hätte ich das Kino!» (1920), in: Fritz Güttinger (Hg.), Kein Tag ohne Kino. Schriftsteller über den Stummfilm, Frankfurt am Main 1984, S. 384-399, hier S. 391.

Tannenbaum (wie Anm. 2), S. 237.

Collin (wie Anm. 15), S. 237 f.

Carl Hauptmann, «Film und Theater» (1919), in: Güttinger (wie Anm. 18), S. 369- 375, hier S. 373 f.

Vgl. dazu Leonardo Quaresima, «Der Expressionismus als Filmgattung», in Uli Jung / Walter Schatzberg (Hgg.), Filmkultur zur Zeit der Weimarer Republik, München 1992, S. 174-194, hier S. 177.

ln: Illustrierte Filmwoche 37 (1920), S. 376. Zit. nach Jürgen Kasten, Der Expres­sionistische Film. Abgefilmtes Theater oder Avantgardistisches Erzählkino- Fine Stil-, produklions- und rezeptionsgeschichtliche Unter­suchung, Münster 1990, S. 63.

Meret Ernst
geb. 1966, promovierte Kunsthistorikerin. Arbeitet als Ausstellungsmacherin und Publizistin mit Schwerpunkten zeitgenössische Kunst, Grafik und Design. Seit 1999 Mitglied der CINEMA-Redaktion. Taucht seit sechs Jahren.
(Stand: 2018)
[© cinemabuch – seit über 60 Jahren mit Beiträgen zum Schweizer Film  ]