THOMAS SCHÄRER

CLOSED COUNTRY (KAS­PAR KASICS, STEFAN MÄCHLER)

SELECTION CINEMA

Das Herzstück von Closed Country ist die Konfrontation zweier jüdischer Familien mit dem ehemaligen Grenzwachtoffizier Fritz Staub. Er war für den Grenzabschnitt verant­wortlich, den die Eltern von Charles und Sa­bine Sonabend im Sommer 1942 überquerten, dann aber - nachdem die Polizei sie auf­gegriffen und dem Ursulinenkloster Pruntrut in Gewahrsam gegeben hatte - zurückge­schickt wurden. Die Eltern starben in deut­schen Konzentrationslagern, die Kinder Sabine und Charles überlebten in Frankreich.

Auch die Familie Popowski überquerte die Schweizer Grenze im Sommer 1942. Sie wurde vom damaligen Chef der Fremdenpoli­zei, Heinrich Rothmund, persönlich kontrol­liert. Er war zufälligerweise auf einer Inspek­tionsfahrt und brachte es nicht über sich, seine eigene Weisung einzuhalten: Er liess sie einreisen. Zurück in seinem Berner Büro, verfügte er eine totale Grenzsperre.

Die Begegnungen sind teilweise sehr hef­tig: Sabine Sonabend attackiert die Schwestern des Ursulinenklosters mit unverhohlener Rage. Sie glaubt, mit Zivilcourage hätten die Schwes­tern ihre Familie retten können. Der Grenz­wachtoffizier Fritz Staub steht auch vor den Geschwistern Sonabend zu den Grundsätzen, nach denen er damals handelte.

Um diese Begegnungen webt Kasics ein dichtes Netz aus Wochenschaumaterial, nach­gestellten Szenen und Interviews mit den Popowskis, den Sonabends und der Frau des engsten Mitarbeiters von Rothmund.

Der flüssige Schnitt, der narrative Aufbau, dynamische Travellings und die sehr präsente leitmotivische Musik werden dramaturgisch eingesetzt. Wichtig ist Kasics und Mächler offensichtlich die Frage, wie in historische Dokumente Leben zu bringen sei. Sie bemühen sich (eine Spur zu sichtbar) um «Publikums­freundlichkeit». Dazu wenden die Autoren zwei heikle Kunstgriffe an: Zur Veranschau­lichung der offiziellen Flüchtlingspolitik re­konstruieren sie aus Rothmunds Rücktrittsrede und verschiedenen Weisungen eine akustisch künstlich gealterte «historische» Ansprache. Zum Zweiten verwenden sie Wochcnschau- bilder in einem zeitlich nicht immer klar de­finierten Kontext und montieren eigene, fiktive Szenen teilweise schwer unterscheidbar in das historische Material. Das wäre dem Film an­zukreiden, würde er damit historische Zusam­menhänge verfälschen, was allerdings - dank der akribischen Recherchen des Historikers Stefan Mächler, auf denen Closed Country basiert - nicht der Fall ist.

Thomas Schärer
geb. 1968, studierte Geschichte und Film-/Theaterwissenschaft in Zürich und Berlin, seit 1991 freie (film)journalistische Arbeiten, ab 1992 Programmgestaltung an der Filmstelle der Zürcher Hochschulen.
(Stand: 2019)
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