SAMUEL AMMANN

DOGMA 95 ALS FINGERÜBUNG FILMISCHEN ERZÄHLENS

ESSAY

Will ich als Filmstudent lernen, will ich Position beziehen. Als Anfänger ist das nicht immer ganz einfach, denn das Feld, in dem ich mich positionieren will, ist ein unübersichtliches Schlachtfeld der Theorien. Alle wollen mitkämpfen, und jeder hat seine Theorien. Diese Theorien verfestigen sich bald zu Regeln und Konventionen. Einige davon sorgfältig zu beachten, ist ratsam, doch es verhält sich eigentlich mit jeder Regel gleich: Sie lässt sich je nach kulturellem und his­torischem Umfeld, je nach Stoff, eine Zeit lang produktiv anwenden, bis sie plötzlich ihren Sinn verliert. Dann sollte man sich von ihr wieder lösen, will man noch ein lebendiges Werk schaffen. Wände anerbieten sich geradezu, um sie mit dem Kopf einzurennen, aber, um Regeln sinnvoll zu brechen, muss man sie kennen. Eine Filmschule stellt eine Möglichkeit dar, über filmische Regeln Klarheit zu gewinnen, aber auch mit ihnen zu experimentieren. Im Weiteren gibt es eigentlich nur eine unumstössliche Regel, die wirkliche Beachtung ver­dient und alle andern einschliesst: das Interesse der Zuschauerinnen und Zu­schauer zu wecken und diese mit den Möglichkeiten der Illusion zu überlisten.

Immer wieder schrieben Filmemacher Manifeste, um sich von verhärteten Konventionen des Kinos abzulösen oder sie radikal zu brechen. Sie stellten Regeln auf, stolperten über ihre eigenen Gesetze, und die neuen Wellen ver­ebbten irgendwann. Rückblickend blieb ihr Einfluss auf die Filmgeschichte aber bestehen, weil sie andere Möglichkeiten des Erzählens hervorbrachten. Als Anfänger befürworte ich gewisse Einschränkungen, die mich davor bewah­ren, im Meer der Konventionen, Ideen und Vorbilder zu versinken. Komme ich als Provinzler in die Welt des Films, fühle ich mich verloren. Um mich in dieser Welt zu bewegen, muss ich sie als Provinz begreifen. Es gilt Einschränkungen zu finden, die vom Komplizierten zum Einfachen führen; so ist später auch der umgekehrte Weg möglich. Liest man die Regeln, die Lars von Trier und Tho­mas Vinterberg 1995 unter dem Namen Dogma 95 veröffentlicht haben, nicht wie ein Fundamentalist die Bibel, kann man diese Regeln als Programm verste­hen, um vom Komplizierten zum Einfachen zu finden. Als Filmschüler sehe ich Dogma 95 als gute Fingerübung, um dahin zurückzufinden, wo ich ursprüng­lich hinwollte: zum Erzählen. Mein Kurzspielfilm Grossätti (CH 1999) erzählt die Geschichte eines alzhei­merkranken Grossvaters, der mit der Familie seines Sohnes für ein paar Tage verreisen soll. Auf der Autobahn glaubt der Grossvater, dass seine Frau, die seit einem Jahr tot ist, zu Hause vergessen wurde. Er dreht durch. Chaos entsteht. Das Auto muss anhalten. Grossvater entwischt und flüchtet über die Fahrbahn. Als die Familie mit dem Auto auf der andern Seite ankommt, sind nur noch seine Turnschuhe da. Später finden sie ihn auf einer Leitplanke sitzend.

15 Minuten Geschichte, vier Schauspieler und acht komplizierte Drehorte (vor allem Auto und Autobahn) galt es, in knapp vier Drehtagen zu bewältigen. Damals erschienen gerade die ersten Berichte über Dogma 95, die dem Film Festen (Thomas Vinterberg, DK 1997) vorausgingen. Wegen Zeitnot und auf Grund einer gewissen Neugierde für die Regeln des Dogma reduzierte ich die Technik für Grossätti auf eine Kamera und ein Tonaufnahmegerät. Übrig blie­ben Drehbuch, Geschichte und Schauspieler. Damit wurde etwas ziemlich schnell klar: Ich hatte keine Ahnung von Schauspielführung. Michael Maassen, der Hauptdarsteller, meinte dazu, ich müsse nicht traurig sein, denn die wenigs­ten Filmregisseure verstünden etwas von Schauspielerei. Das verwundert nicht. Film funktioniert nicht wie Theater. Die Geschichte findet nicht hier und jetzt statt. Durch die Mittel der Technik kann einiges versteckt werden, die Un­mittelbarkeit umgangen werden, und die Schwächen der Schauspieler oder der Regie können elegant vertuscht werden. Mit Musik zum Beispiel: Stirbt heute jemand im Film, sitzt ein ganzes Orchester neben dem Sterbebett. Und Sex ohne Zeitlupe scheint unsexy zu sein. Gegen das Manifest der Dänen kann ein­gewendet werden, dass ausgerechnet alles, was bei der Filmerei so geil ist, ver­boten wird: dramatische Musik, elegische Kamerafahrten, Kostüme, Mord und Totschlag und so. Keines dieser Elemente hat allerdings je eine Geschichte vor dem Absturz gerettet, es hat sie höchstens verziert. Auch die «Titanic» wäre ohne Geigen und Computer um einiges schneller gesunken. Gerade durch das Weglassen solcher Gestaltungsmittel wurde mir bewusst, wie schnell man dazu neigt, den Stil über den Stoff zu stülpen. Die Verlockung ist gross, den Stoff in irgendwelche Giessformen der Dramaturgie und Ästhetik zu füllen, nicht zuletzt aus der Angst heraus, gegen Sehgewohnheiten oder Unvorhersehbares zu arbeiten.

Da stand ich also mit meinen vier Schauspielern, ich hilflos, sie erwartungs­voll glotzend. Es galt, andere Lösungen zur Erzeugung von Emotionalität zu finden. Eine gute Fingerübung für Anfänger. Durch die Reduktion der Technik gewannen wir Raum und Zeit. Wir versuchten, bei der Erarbeitung einer Szene in gewisserWeise an die Unmittelbarkeit der Bühnenarbeit anzuknüpfen. Ohne die Inszenierungsarbeit durch technische Fragen aufzusplittern, war es so mög­lich, Kontinuität und Chronologie einer Szene vollständig beizubehalten. Wir nahmen immer eine ganze Szene in Angriff und fingen mit den Dialogen an. Diese sollten mit einigen Ausnahmen nur der Idee nach dem Drehbuch ent­sprechen. Wichtiger war, dass die Dialoge aus der Figur heraus sprachen. So galt es primär, die Figuren zu klären und aus ihnen heraus über ihre Bewegungen und Handlungen im filmischen Raum zu argumentieren. Hier gab ich nicht vor, was ich sehen wollte, sondern höchstens, was ich nicht sehen wollte. Improvi­sation half so nicht nur, gestelzte Dialoge zu verhindern, sondern führte auch zu neuen Ideen, die die Szenen in ihrer Bewegung reicher oder dynamischer machten. Ich denke, es ist nicht primär die Aufgabe der Regie, die Schauspiele­rinnen und Schauspieler über ihre Handlungen und Bewegungen aufzuklären, sondern über die verkörperte Figur. Stimmt die Figur, stimmen auch ihre Handlungen. Robert Bresson formuliert das so: «Die Gefühle müssen das Geschehen hervorbringen, nicht umgekehrt.»

Nicht unbedeutend ist in diesem Zusammenhang die Beziehung des Schau­spielers zur Kamera. Normalerweise wird davon ausgegangen, dass sich der Schauspieler nach der Kamera richtet, dass er zu ihr hinspielt. Muss er auch, bewegt er sich doch in einer sehr eng gesteckten Welt der Technik und der Kon­vention einer Szenenauflösung, der so genannten Decoupage classique. Es gilt den ganzen Lichtaufbau auf einem Set, Lichtkorridore, Schärfemarken, Dollv- schienen, Bewegungs-, Handlungs- und Lichtanschlüsse, Kamerakadragen usw. zu beachten. Konvention und Technik geben dem Schauspieler den be­spielbaren Raum vor und schränken ihn somit ein. In Punkt drei des Dogma 95, einem Nachsatz zur Forderung nach der Handkamera, steht: «The film must not take place where the camera is standing; shooting must take place where the film takes place.» Dieser Satz enthält mit dem Perspektivenwechsel in der Betrachtung des Kamera-Schauspieler-Verhältnisses die wichtigste Aussage des Dogma: die Kamera soll sich nach dem Schauspieler richten, nicht umgekehrt. Das heisst letztlich, der Stil ist die Konsequenz dieser Arbeitsweise und nicht die Voraussetzung. Das halte ich für sehr wichtig. Nicht nur für diejenigen, die Filme machen, sondern auch für die, die sic kritisieren. So kam es bei der Kritik der beiden ersten Dogma-Filme zu einem Missverständnis: In der Presse wurde mit Begriffen wie «neuer Realismus», «dokumentarische Qualität» und «mehr Wahrhaftigkeit» hantiert, die die Filmemacher angeblich zu erreichen versuch­ten. Daran gibt es nichts auszusetzen, doch die Argumente für diese Behaup­tungen wurden meist an der Art der Kameraführung festgemacht. Die ominöse handgehaltene und verwackelte Kamera wurde mit mehrWahrhaftigkeit gleich­gesetzt. Was macht denn eine verwackelte Aufnahme mit Handkamera wahr­haftiger oder wirklicher als eine mit Stativ? Auch hinter den Bildern eines Dogma-Filmes versteckt sich eine artifizielle, stilisierte Sicht auf die Welt und keine authentische. Das Gefühl, man nehme sehr nah an den Figuren und der Geschichte teil, wird nicht primär durch die andersartige Kamera und Découpage erreicht, sondern diese Gestaltungsmittel stehen unter dem Diktat der andersartigen Arbeitsweise mit Schauspielerinnen und Schauspielern.

Deshalb zog ich den Kameramann bei Grossätti oft erst dann bei, wenn die Szene bereit war für eine Hauptprobe. Die Schauspieler wussten nicht, dass die Kamera läuft, und der Kameramann wusste nicht, wie sich die Schauspieler genau bewegen, wer wann spricht usw. Dies hatte auf beiden Seiten seine Wirkung. Bei einer Probe probieren die Schauspieler auch immer aus, wie weit sie gehen können, wo ihre inneren und äusseren Grenzen des Ausdrucks liegen. Emotionen werden meist stärker ausgedrückt als während einer Aufnahme. Das kam mir entgegen, wollte ich doch auf gewisse Möglichkeiten der Post­produktion, zum Beispiel die Musik, verzichten. Probiert man aus, so mischen sich die Unberechenbarkeit und der Zufall ein. In der Anfangsszene weigert sich der Grossvater, ins Auto zu steigen, und will ständig weglaufen, während sein Sohn vergeblich versucht, ihn zu überreden. Geplant war, dass sich der Grossvater durch eine Notlüge des Sohnes nach langem Hin und f ier geschla­gen gibt. Tatsächlich fing der Grossvater unerwarteterweise laut zu schreien an, liess sich zu Boden fallen und wälzte sich zeternd. Der Kameramann war darauf nicht gefasst und verlor ihn aus dem Bild, suchte ihn mit der Kamera, das Bild wackelte, suchte den Betonboden ab, Schreien, dann - unscharf - das rot angelaufene Gesicht des Grossvaters, dann sein Sohn, der so erschrocken war (als Person und Figur), dass er automatisch um sich blickte, ob jemand zu­schaute. Die Szene war so unverfälscht, so unvorhersehbar, dass ich sie schliess­lich im Film verwendete.

Es ist die nicht vorhersehbare Handlung des Schauspielers durch Improvi­sation, welche die Szene im weitesten Sinn «wahrhaftig» werden lässt. Dabei ging es mir bei der Kameraarbeit nicht um einen pseudodokumentarischen Anspruch, sondern um eine Verwandtschaft mit dem menschlichen Schauen, Beobachten und Reagieren. Das menschliche Auge reagiert in erster Linie auf Bewegungs- und akustische Reize. Genau wie das Ohr wählt auch das Auge aus. So kann ein Dialog zwischen zwei oder mehreren Personen formal wieder spannend werden. Die Unvorhersehbarkeit eines improvisierten Dialogs bringt neue Wirkungen hervor: Als der Grossvater im Auto realisiert, dass seine Frau fehlt, entsteht ein heftiges Wortgefecht und wildes Handgemenge, in das die ganze Familie verwickelt wird. Wir drehten die Szene mehrmals, die Improvisa­tion wurde beibehalten. Die Kamera änderte dabei immer den Standpunkt (ohne Einhaltung irgendwelcher Achsen) und versuchte über Schwenks immer da zu sein, wo jemand redete oder etwas passierte. Personen redeten im Off, weil der Kameramann zu spät war, oder ein Schwenk zu einer Person wurde abgebrochen, weil jemand anderswo plötzlich zu reden begann.

Will man das Element der Unberechenbarkeit auch nach zwei, drei weite­ren Aufnahmen weiterführen, so gibt es die Möglichkeit, mit Falschinforma­tionen zu spielen. Der Schauspieler kriegt eine Anweisung, die dem Kamera­mann vorenthalten wird. Dieser trifft auf eine unerwartete Situation und muss reagieren. Dasselbe funktioniert auch zwischen den Schauspielern. Solche Ele­mente werden aber erst möglich, wenn sich Kamera und Schauspieler im filmi­schen Raum frei bewegen können.

Erst in einem zweiten Schritt versuchte ich Kamera und Einstellung gezielt einzusetzen, um die Befindlichkeit einer Figur oder die Stimmung einer Szene bildlich darzustellen. Hier arbeitete ich vor allem mit der Einstellungsgrösse und der Einhaltung oder Nichtbeachtung der Blick- und Handlungsachse. War die Szene ruhig, blieb die Kamera statisch. Die Blickachse wurde zwar nicht immer eingehalten, aber mit halbnahen Einstellungsgrössen wurden die Betei­ligten entweder mit ruhigen Schwenks verbunden oder durch Tiefenmontage angeordnet. Im Gegenzug dazu beispielsweise ein Handgemenge zwischen Grossvater und seinem Sohn auf dem Pannenstreifen, bei dem es dem Gross­vater nach einem Schlag ins Gesicht des Sohnes gelingt, über die Fahrbahn ab­zuhauen. Hier war mir wichtig, die Hektik des Gerangels, das sich körperlich zwischen den beiden abspielt, auch das Publikum körperlich spüren zu lassen. Ich liess die Szene mehrmals drehen, und zwar von beiden Seiten der Hand­lungsachse. Durch die Wahl eines Tele war der Kameramann durch den engen Bildausschnitt und die Hektik stark gefordert. Die Schauspieler entglitten ihm immer wieder, und er versuchte sie irgendwie ins Bild zu kriegen. Durch Un­schärfen, bruchstückhafte, nervöse und unruhige Bilder überträgt sich der Stress des Streits auch auf den Zuschauer, weil er sich ständig neu orientieren muss. Zusätzlich besteht die Möglichkeit, im Schnitt den Achsensprung als räumliches Verwirrungsmoment einzusetzen.

Die Decoupage classique ist ein Rezept. Hier wird die Kamera so positioniert, dass später ein Schnittmuster eingehalten werden kann, das mit Sicherheit funktioniert und vor allem dem eleganten «unsichtbaren» Umschnitt dient. Eine Kamera und Szenenauflösung, die sich nach einem improvisierenden Schauspieler richtet, kann nicht mehr nach einem Rezept arbeiten. Der Zufall und die Unberechenbarkeit, die daraus entstehen, wären nicht mehr möglich. So ist es logisch, dass ich wie beim Drehen auch beim Schneiden den Schwer­punkt der Entscheidungen auf Schauspiel und Geschichte legte, nicht auf eine vorgeformte Ästhetik. So entschied ich mich immer nur auf Grund der Stimmigkeit der Schauspieler, der Logik der Geschichte oder des Rhythmus, mit dem ich die Geschichte vorantreiben wollte. Das konnte so weit gehen, dass ich bei der Rede einer Person einen einzelnen Satz, der mir nicht passte, einfach rausschnitt. Oder ich verwendete längere Aufnahmen derselben Person, weil entweder die Schauspielerei so gut war oder weil ich die andern Beteiligten ins Off setzen wollte. Auch verwendete ich den Sprung über die Achse oder den Jump Cut nicht einfach, weil es trendy ist, sondern weil diese Elemente Schlag­abtausch, Chaos und die holprige Verwirrung einer Streitszene formal trans­portierten.

Praktisch gesehen, entstanden einige Schnitte, die formal vielleicht kata­strophal aussahen, aber dramaturgisch funktionierten oder die Stimmung der Szene rüberbrachten. Versucht man logisch zu schneiden, alles unter dem Ge­setz von Ursache und Wirkung zu betrachten, funktioniert glücklicherweise auch ein holpriger oder fehlerhafter Umschnitt. Als wir die Szene drehten, in welcher der Grossvater über die Autobahn rennt, fing es nach zwei Stunden zu regnen an. Im Film ist nun beim Gerangel die Strasse trocken, als der Gross­vater drüben steht, klatschnass. Niemand hat es gemerkt. Der Anschlussfchler hatte auf die Tatsache, dass der dämliche Grossvater nun dort drüben steht und frech winkt, keinen Einfluss. Dann gab es eine Szene, in der die Tochter mit dem Grossvater spricht. Weil mir der Schluss ihrer Rede nicht gefiel, schnitt ich das Ende einer anderen Aufnahme rein, da trug sie aber plötzlich eine Mütze. Auch hier hat niemand protestiert. Gerade der Umstand, dass sich das Publi­kum bei Filmen wie Festen oder Freaking the Waves (Lars von Trier, DK 1996), deren formale Eigenheiten Zumutung und Offenbarung zugleich sind und in krassem Gegensatz zur geschmeidigen Massenware stehen, von herkömm­lichen Sehgewohnheiten verabschieden kann, beweist, dass beim Publikum die innere Logik einer Handlung, die ein Produkt seines Mitdenkens ist, über der äusseren steht.

Auch beim Schnitt habe ich durch die Prämissen des Dogma 95 viele grund­sätzliche Dinge gelernt. Oft war der Zufall, der bei den Proben (von denen ich übrigens viele Aufnahmen verwendete) mitspielte, daran beteiligt. Beispiels­weise als die Familie auf der gegenüberliegenden Fahrbahn der Autobahn ankommt: Der Kameramann blieb, ohne dass wir das abgemacht hatten, auf dem Gesicht des Sohnes. Dieser starrt sprachlos vor sich hin, während man im Ton hört, wie die Tochter, die in der Zwischenzeit aus dem Auto gestiegen war, «Grossätti!» schreit. Erst nach einer Weile schwenkte der Kameramann dann vom Gesicht des Sohnes auf die Tochter, die mit den Turnschuhen in der Hand auf dem Pannenstreifen steht. Vor dem Drehen plante ich einen Zwischen­schnitt auf die Tochter und die Turnschuhe, doch entstand ohne diesen ein Effekt, der sehr gut wirkte, nämlich dass nur im Ton erzählt wird. Die Spannung des Zuschauers steigt in diesem Moment, weil ihm etwas vorenthalten wird (im Bild), weil er sich vorstellt, was alles Schreckliches passiert sein könnte. Der Ton kann unter Umständen viel stärker dramatisieren, wenn das Bild dazu nicht gezeigt wird: Die Fantasie des Zuschauers ist stärker als jedes Bild. Hier habe ich beim Schneiden durch einen Zufall etwas über Dramaturgie gelernt.

Oder das sprunghafte Denken des alzheimerkranken Grossvaters, der mit seinen Gedanken und Stimmungen dauernd woanders ist: Seine Befindlichkeit liess sich gerade mit diskontinuierlichen, elliptischen Schnitten gut transportie­ren. Mal schaut er lange und ruhig zum Fenster raus. Schnitt. Er packt zwei Koffer. Schnitt. Er reisst den Vorhang am Fenster zurück. Schnitt. Seinen Kopf drückt er ganz nah an die Fensterscheibe. Gerade die Art seines Denkens wurde über den Schnitt schliesslich auch zu einer Dramaturgie der Überraschungen und Ambivalenzen. Das Verhalten des Grossvaters sah ich oft als Motivation, das Tempo über den Schnitt zu erhöhen oder zu drosseln, räumliche Verwir­rung durch Diskontinuitäten und Achsensprünge bzw. Ruhe durch eine kon­ventionelle Auflösung zu vermitteln.

Die Befriedigung: das Erlebnis, in gewisser Weise bei Null zu beginnen, zu den grundsätzlichen Qualitäten des Films zurückzukehren und ein bisschen auch, sie neu zu erleben. Zu sehen, dass man heute auch ohne grossen technischen Schnickschnack auskommen kann, um eine Geschichte zu erfinden. Die gros­sen Vorbilder und die ganze Filmszene, die sich als drohende Gespenster hinter dem Rücken eines Filmstudenten bewegen, abzulegen und sie vielleicht auch ein wenig zu provozieren.

Das Paradoxe: durch neue Regeln von einer «Regelmässigkeit» des Filmemachens wegzukommen und zu einer Befreiung zu gelangen.

Das Ernüchternde: durch die Reduktion der Technik zu merken, dass ich an der Filmschule zwar lerne, wie man ein Licht setzt, wie man eine Szene auf­löst usw., aber dass ich vom Wichtigsten, dem Erzählen einer Geschichte und der Schauspielführung, nach drei Jahren Schule noch immer keinen blassen Dunst habe - das erscheint mir symptomatisch, sind doch viele Schweizer Filme technisch gesehen oft auf hohem Niveau, die Geschichten und die Insze­nierungen wirken aber eher gekünstelt.

Der Verdacht: dass aus Angst vor kommerziellem Misserfolg versucht wird, die Geschichten in normierte Giessformen der Ästhetik abzufüllen.

Der Stoff: Es geht nicht darum, die Regeln des Dogma 95 als Anleitung zu einem guten Film zu verstehen, aber es kann nicht schaden, einen Blick in den Norden zu riskieren, wo uns ein paar Dänen zeigen, dass gute Geschichten auch ohne Lastwagen voller Technik erzählt werden können. Vielleicht entsteht eine gute Geschichte (oder «Kunst») da, wo man nicht zu sehr nach ihr sucht. Oder vielleicht wirkt eine Geschichte mehr, je unabsichtlicher sie ist. Aber das sind nur Vermutungen.

Samuel Ammann
geb. 1975, studiert seit 1996 an der Hochschule für Gestal­tung und Kunst Zürich im Studienbereich Film/Video, lebt in Zürich.
(Stand: 2018)
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