RUEDI WIDMER

EIN ZUFALL IM PARADIES (MATTHIAS VON GUNTEN)

SELECTION CINEMA

Das «Rätsel Menschheit» - woher kommen wir? warum gibt es uns? - ist zu einem attrak­tiven medialen Dauerthema geworden. Mat­thias von Gunten bindet die Abhandlung der Fragestellung an sechs Forscherpersonen. Das Material - Begegnungen im Labor und in der freien Natur - ist nach einem thematisch moti­vierten roten Faden montiert, teilweise unter­legt mit perkussiv-ethnischer Musik und einem Off-Kommentar, der die wichtigsten Informa­tionen auf den Punkt bringt. Der Zuschauer ist Lernender; Faszination und Wir-Gefühl der Spezies werden als Grundhaltung über die For­scherpersonen vermittelt, wenn nicht gar vor­ausgesetzt.

Kamoya Kimeu, eingeführt als bedeuten­der kenyanischer «Fossilienfinder», und Meave Leakey, die ebenso bedeutende Paläontologin, werden bei einer gemeinsamen Expedition in der afrikanischen Turkana-Wüste gezeigt. Die beiden suchen - und finden - Fossilien, die teil­weise vier Millionen Jahre alt sind. Den Palä­ontologieprofessor Tim White sicht man an sei­nem universitären Arbeitsort in Berkeley, wie er entsprechende Funde in einer allgemeinen Forschungsperspektive situiert. Gesucht ist ein möglichst vollständiges Bild der allerersten Hominiden (evolutionäre Vorformen des Men­schen) und ihrer Lebenswelt. Eine solche Re­konstruktionsarbeit wird wiederum exempla­risch vorgeführt vom amerikanischen Experten John Gurche, der aus versteinerten Knochen einen Hominidenkopf bis zum letzten Fältchen und Äderchen modelliert.

Die andern beiden Hauptpersonen, der Schweizer Verhaltensforscher Christophe Boescli und die Evolutionsforscherin Elisabeth Vrba, nutzen die gegenwärtige Natur als Er- kenntnisquellc. Vrba interpretiert ausgesuchte afrikanische Biotope als Folie, an der die Ent­wicklung der Arten verständlich wird. Boesch befasst sich seit Jahren mit Schimpansen, deren Verhalten er mit bewegender Geduld beobach­tet und zur Geschichte des Menschen in Be­ziehung setzt.

Die Erläuterungen der Fachpersonen vor der Kamera zeigen - kaum kommentiert im Off-Text des ansonsten nicht greifbaren Autors - Formen der Faszination und Leidenschaft, auch des Forscherstatus überhaupt. Zugleich folgt man einem Fragen- und Hypothesen­katalog: Nähe des Menschen zu den nächs­ten «Verwandten»; Werkzeuggebrauch, Jagd­gewohnheiten, aufrechter Gang; Triebkräfte der Entwicklung, und schliesslich: wie zwin­gend oder zufällig die Evolution verlaufen ist.

Der Film ist in alledem gut zugänglich, die gedanklichen Inhalte als solche ohne Mühe erschliessbar. Dass dabei Personen und Eigen­arten, Positionen und Denkgewohnheiten sichtbar werden und dennoch nicht zu tiefer reichenden Porträts zu verweben sind, gehört zur Ambivalenz der gewählten Form. Dass Ur­sprungs- oder Forschungsmythen mit tieferen Einsichten und kritischen Gesichtspunkten ein buntes Mischverhältnis eingehen, mag einer «ungebrochenen» Neugierde des Publikums entgegenkommen. Schwerer wiegt der Um­stand, dass auch thematisch meistens nur Mo­mente der «Berührung» (mit einer Frage, einem Gedanken, einer These), allenfalls solche eines anregenden Kontaktes (beispielsweise bei einer Jagdszene, wo Schimpansen einen Angehöri­gen einer anderen Affenart erlegen) möglich sind. Ein Zufall im Paradies erfüllt alle Vor­aussetzungen einer sensiblen Einführung ins Thema. Für weiter gehende Wünsche fehlt dem Film die mediale Eigenständigkeit, der kreative Spielraum, die Präsenz eines reflektierenden Gegengewichtes zur wohl bekannten For­scherbühne.

Ruedi Widmer
geb. 1959, ist freier Journalist in den Bereichen Film und elek­tronische Medien, studierte audiovisuelle Medien und Philosophie in Paris und Zürich.
(Stand: 2018)
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