RUEDI WIDMER

DIE ZEIT MIT KATHRIN (URS GRAF)

SELECTION CINEMA

Im März 1994 wird Kathrin Bohny in die Schauspielakademie Zürich aufgenommen. Man sieht sie am Anfang des Filmes bei der Unterzeichnung ihrer Vereinbarung mit Urs Graf über eine filmische Begleitung der vier­jährigen Ausbildung. Der Autor spricht als Ich-Person aus dem Off: «Seit sie mir das For­mular mit den Angaben zu ihrer Person gezeigt hat, bin ich mir meiner Wahl sicher. In der Rub­rik «Besondere Fähigkeiten und Interessen» hatte sie notiert: <Reisen, Sprachen, Tanzen, Singen, Schokolade, Volleyball».

Die Rollenverteilung ist damit weitgehend gegeben: Die Schauspielschülerin figuriert im Bild - meist mit Schülerinnen und Lehrerinnen beim Unterricht, seltener auch in der Stadt oder in ihren vier Wänden. Der Filmer befindet sich im Bildschatten der durchwegs ruhig geführten Kamera. Die Porträtierte agiert und spricht spontan, während die kurz gefassten Gedan­ken oder Reminiszenzen des Porträtierenden als geschriebener Text aus dem Off kommen. Sie sind tagebuchartig datiert und markieren - wie die Musik von Alfred Zimmerlin - die Zeit­schritte von Aufnahme zu Aufnahme.

Zunächst werden vor allem Ausschnitte aus dem Unterrichtsdialog gezeigt. Die Lehrer­innen lenken die Aufmerksamkeit der Schau­spielschülerinnen auf den Körper, dessen in­nere Wahrnehmung. Wie sich Kathrin zu den Aufnahmen äussert, wird von der Stimme im Off zitiert. Ihre Eindrücke von sich selbst - «unkonzentriert», «fahrig», «verlegen» - mün­den bald in ein Fazit: «Das muss sich ändern.» Es entspricht dem Tenor der Lehrerstimmen: Sie fordern Bewusstwerdung, das Ablegen von Gewohnheiten, die Relativierung der gewach­senen, gewordenen Person. Zitiert werden auch immer wieder Äusserungen von Kathrin, unter anderem zur Präsenz der Kamera und des Autoren: «Das muss daran liegen, dass du mit der Kamera dabei warst.»

Im dritten und vierten Jahr arbeiten die Schülerinnen schwergewichtig an Stücken, Rollen, Inszenierungen. «Ich weiss genau, wie Kathrin aussicht», spricht der Autor von sich selbst und thematisiert damit seine Voyeur-Position. Kathrin bleibt dabei der Hauptgegenstand seiner Bilder. Ihre Tonart wechselt zwischen tastendem Fragen und keckem Spe­kulieren. Ob sie mit Lehrern spricht oder mit Kolleginnen spielt - immer ist der kamerafüh­rende Gesprächspartner fühlbar als verdeckte Instanz des Mitgehens, Mitfühlens, gedank­lichen Ordnens.

Als das Ende der Ausbildung naht, wird die Selbstdarstellung nach aussen zum Thema. Kathrin Bohny und Urs Graf arbeiten an Fotos, welche die Schauspielerin ihren Bewerbungs­schreiben beizulegen hat. Ihr Bedürfnis nach mehr Raum für die Überlegung und Entwick­lung wird deutlich. Kathrin verabschiedet sich schliesslich aus dem Zug nach Deutschland - wo sie ein erstes Engagement hat - von der «Kamera», die sich in jenem Moment stärker als zuvor als Teil einer gewachsenen, nun zur Disposition stehenden Verbindung erweist.

Der Film hat sein starkes Gepräge in der Achse und Dynamik zwischen der filmenden und der gefilmten Person. Es liegt darin wohl mehr Gewicht, als einer «Entwicklungsstudie» gut tun kann. Was am Film berührt, ist - viel mehr als die Auseinandersetzung mit einer Per­son oder einer Ausbildungslogik - das Doku­ment einer Beziehung. Dass diese stets zu ver­muten ist und dennoch verhüllt bleibt, erzeugt eine Intensität, die sich der (kreativen) Kont­rolle der Beteiligten zu entziehen scheint.

Ruedi Widmer
geb. 1959, ist freier Journalist in den Bereichen Film und elek­tronische Medien, studierte audiovisuelle Medien und Philosophie in Paris und Zürich.
(Stand: 2018)
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