«Even presidents have a private life» - Bill Clinton Wohl kaum ein Thema hat die neunziger Jahre so sehr geprägt wie das Private. Und kaum je verfügte das Stichwort «privacy» über eine derart schillernde Brisanz - nicht erst seit dem Diktum des US-Präsidenten. Als vorläufiger und paradoxer Endpunkt einer Entwicklung, die in unseren Breitengraden jeder und jedem eine Privatsphärc ermöglicht und sie sogar rechtlich verankert, wandelte sich in jüngster Zeit die damit verbundene konzeptuelle Definition: Die Grenzen zwischen privatem und öffentlichem Leben werden zunehmend verwischt - ohne dass die Dichotomie gänzlich aufgelöst würde. Das Private wird zelebriert, in ritualisierter Form das Innen nach aussen gekehrt; man erhält Zutritt zu verschlossenen Räumen; verborgene Gefühle und geheimste Gedanken werden öffentlich preisgegeben. Für die filmische Fiktion war «Intimität» seit Anbeginn konstitutiv. Die Nähe zu den fiktionalen Figuren ist Voraussetzung für die Empathie der Zusehauerinnen und damit essentiell für das Filmerlebnis. Vermehrt gehen nun im Bereich der Bildmedien Fiktion und Nichtfiktion ineinander über, mischen sich filmische Inszenierung und mutmassliche Wirklichkeit. Der Dekonstruktion des Privaten folgt seine filmische und mediale Rekonstruktion. CINEMA 44 widmet sich den Schnittstellen von «privat» und «öffentlich» im weiten Feld der Bildinszenierung und steckt Berührungspunkte ab, die über den Film im klassischen Sinn hinausweisen. Jörg Fluber analysiert das neue Verhältnis zwischen Privatheit und Öffentlichkeit vordem Hintergrund der Visualisierungstechnologien und ortet eine neue Selbstimagination im Spiegel der medialen Öffentlichkeit. Das Funktionalisieren des Privatbereichs im Dienste des Konsums und der Werbung erörtert Margrit Tröhler. Patrick Straumann skizziert die Beweggründe Richard Leacocks, nach einer Dokumentarfilmkarriere, die bis in die Stummfilmzeit zurückreicht, heute ausschliesslich mit digitalem Bildmaterial zu arbeiten. Martina Roepke beleuchtet die Anfänge der Amateurfilmbewegung, als mit zunehmender Erschwinglichkeit der Apparaturen auch die Bilder des Familienalbums lauten lernten. Über den Familienfilm als «mediale Praxis der Selbstdarstellung und -Inszenierung» reflektiert Alexandra Sehneider am Beispiel von Fredi M. Murers in Vergessenheit geratenem Auftragsfilm Christopher & Alexander. «I can handle things, once they're on film»: So umreisst Anne Charlotte Robertson die therapeutische Wirkung ihrer filmischen Tagebuchaufzeichnungen. Christine Noll Brinckmann präsentiert Robertsons Oeuvre, in dem diese ihr Ich erforscht und ihre intimsten Wahrnehmungen einem Publikum unterbreitet. Susanna Kumschick nimmt uns mit auf eine sinnliche Erkundungsreise durch Victor Kossakovskys Dokumentarfilm Belovy, in dem «Nähe» in erster Einie über das Lauschen erfahren wird. Till Brockmann zeigt die subtile Thematisierung der «inexistenten» Problematik des Privaten seitens der Filmemacher der «Fünften Generation» in China. Stefan Zweifel und Ruedi Widmer schliesslich behandeln in ihrem Beitrag die filmische Umsetzung eines Textes, der die Zerstörung von Individualität, Intimität und körperlicher Integrität beschreibt: Pasolinis letzten Film Salb ole 120 gtornate di Sodoma setzen sie dabei einem Vergleich mit der literarischen Vorlage von de Sade aus. Eine bildliehe Annäherung ans Thema gibt Lsabel Truniger: Sie porträtiert in einem Fotoessay - dem auch das Titelbild entstammt - ihre Eltern. In der Nocturne setzt sich Fred van der Kooij für eine «Rückeroberung» der Vertikalen im Film ein. Ausgehend von der christlichen Ikonographie früherer Jahrhunderte, schlägt er einen verblüffend-amüsanten Bogen über die Symbolik des Aufzugs bis hin zu Hitchcock. Der Artikel von Cian Euca Farinelli und Nicola Mazzanti setzt sich mit den Tücken und Flindemissen auseinander, die einem uneingeschränkten Filmgenuss im Kino entgegenstehen. So nah, so fern: Der Filmbrief stammt dieses Jahr aus Wien. Nebst einem Abriss der österreichischen Filmgeschichte bietet Alexander Horwath einen instruktiven Einblick in die hierzulande wenig bekannte aktuelle Filmszene und Forderungspolitik. Jen Haas diskussiert im CH-Fenster Marcel Cislers vielbeachteten Spielfilm F. est un salaud. Der Index als kritische Rückschau auf ausgewählte jüngste Schweizer Filmproduktionen beschliesst CINEMA 44. Für die Redaktion Doris Senn unabhängige Schweizer Filmzeitschrift, 44. Jahrgang
CINEMA #44
DAS PRIVATE
EDITORIAL
ESSAY
FILMBRIEF
SELECTION CINEMA
DIE REGIERUNG - MONTAG, DIENSTAG, MITTWOCH UND ZURÜCK (CHRISTIAN DAVI)
ÖLMEYE YATMAK - UND SIE LEGTE SICH ZUM STERBEN NIEDER (ESEN ISIK)
WIE AUS EINEM DORF EINES BLIEB; SPREITENBACH (THOMAS OEHNINGER, BEAT LENHERR)
STEINAUER NEBRASKA-GESCHICHTEN UM GEWINN UND VERLUST (KARL SAURER)
RYHINER'S BUSINESS – ERINNERUNGEN AN EINEN TIERFÄNGER (MIKE WILDBOLZ)