SANDRA WALSER

MADE IN HONG KONG (LUC SCHAEDLER)

SELECTION CINEMA

Wer mit einer kleinen Digital-Handkamera auf Dreh geht, wird oft von den Gefilmten als nicht ganz ernstzunehmender Filmemacher abgetan. Dies erlaubt jedoch den Regisseuren, die sich die neue Technologie zu eigen gemacht haben, als (fast völlig) vergessene Begleiter überall da­beizusein. Der 35-jährige Luc Schaedler hat auf diese Weise für seine Lizentiatsarbeit in Visuel­ler Anthropologie die (damals noch) britische Kolonialstadt Hongkong vier Monate lang be­sucht. Er filmte in den labyrinthartigen Gängen der Chungking Mansions und auf Märkten, er nahm auf, wie Prostituierte über ihr Leben phi­losophieren, und bannte auf Video, wie eine alte Frau sorgsam einen überquellenden Ab-fallkübel durchsucht. Die Zuschauerinnen be­kommen also nicht gerade die Art von Bildern zu sehen, die man von einem Dokumentarfilm über Hongkong kurz vor der Rückgabe an China erwarten wurde. Die allgemeine Hysterie um das Hand-over ist Schaedler bewusst von einer ungewöhnlichen Seite angegangen. Er interviewte sechs völlig unterschiedliche Be­wohner und fokussierte den Kontrast zwischen den nachdenklich-ruhigen Menschen und dem gestressten Umfeld, in dem sie leben.

Peter kam 1976 als eine Art Abenteurer nach Hongkong und arbeitet seit einigen Jahren als britischer Kolonialbeamter. Nicole ist Süd­afrikanerin und freischaffende Journalistin und empfindet eine seltsam komplexe Hassliebe für die Kolonialstadt. Eric ist Professor für Archi­tektur an der Universität. Guo ist der Sohn südchinesischer Immigranten und arbeitet als Journalist und Musiker in der Metropole. Afzal wuchs in einem Waiscnheim in Pakistan auf und ist Schauspieler. Mohan, ein Inder, besitzt ein Stoffgeschäft in den Chungking Mansions.

Entstanden ist ein sehr feinfühliges und vielschichtiges Porträt über die Komplexität persönlicher Gefühle, die sich mit dem Hand-over verbinden. Ein Befragter stellt sich die Zu­kunft der Kolonialstadt «als eine Art Tango zwischen der westlichen Technologie und Chi­nas unglaublicher Weite und seinen mensch­lichen Ressourcen» vor und hofft, «dass dieser Tango gut getanzt wird». Ein anderer be­schreibt Hongkong als «schöne Frau mit schlechter Laune».

Schaedler jedoch verlässt sich nicht auf vermeintlich optimistische und klare Aussagen, sondern hinterfragt sie. So gelingt es ihm, ver­drängte Ängste ausfindig zu machen und sie greifbar aufzuzeigen. Dies verleiht dem Film Tiefgang. Durch eine konsequent aufgebaute Bild- und Tonmontage zeigt er auf, wie eng die persönliche Zukunft der Befragten in Verbin­dung steht zu den Problemen, die auf Hong­kong zukommen werden: die stadtplanerische Konzeptlosigkeit, die geographisch ungünstige Lage und die explodierende Wirtschaft. Mit enormer Intensität wird bewusst gemacht, wie schwierig es ist, sich für oder gegen ein Bleiben in Hongkong zu entscheiden.

Sandra Walser
geb. 1976, lebt als freie Journalistin und Studentin in Zürich.
(Stand: 2018)
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