SANDRA WALSER

WIE AUS EINEM DORF EINES BLIEB; SPREITENBACH (THOMAS OEHNINGER, BEAT LENHERR)

SELECTION CINEMA

Spreitenbach - das Bauerndorl von einst gilt heute als das Fleckchen Schweizer Erde mit der abstrusesten Ortsplanungsgeschichte. Im Tau­mel der wilden sechziger Jahre wollte das aar­gauische Dorf kurzerhand kein Dorf mehr sein, sondern «Modellstadt». Leute, die nie zuvor mit einem derartig gigantischen und beispiel­losen Projekt zu tun hatten, wurden mit der Planung beauftragt: Den Wunsch nach Licht und Luft für alle glaubte man mit Hochhaus­siedlungen befriedigen zu können. Nach ame­rikanischem Vorbild wurde ein riesiges Shop­ping-Center - das erste der Schweiz - eröffnet. In dieselbe Zeit lallt auch der Bau des gross­flächigen Verschiebebahnhofs der SBB. Auf­bruchstimmung in einem Dorf, das eine Stadt werden will.

Die Euphorie verflüchtigte sich aber bald. Kritik wurde laut, als man feststellen musstc, dass das Siedlungskonzept in seiner prakti­schen Umsetzung nicht das gewünschte Resul­tat bringen würde. Die Aargauer Ortschaft blieb mitten in ihrem Wachstum stecken: Sie ist weder Stadt geworden noch Dorf geblieben. Schliesslich avancierte Spreitenbach zum In­begriff für Siedlungsplanung, wie sie niemals mehr geschehen sollte.

Was ist bis heute aus diesem Dorf gewor­den? Wie bewerten die ausführenden Orts­planer von damals ihr Konzept zum heutigen Zeitpunkt? Solchen Fragen gehen Thomas Oehninger und Beat Lenherr in ihrem Film nach. Und dies mit einem bissigen, zuweilen ironischen, aber nie überheblichen Unterton. Besonders spannend ist die 52-minütige Produk­tion da, wo die Stadtplaner Selbstkritik üben und die Absurdität des Vorhabens betonen.

Wie aus einem Dorf eines blieb; Spreitenbach überrascht durch seine Vielschichtigkeit. Originales Archivmaterial wird verbunden mit Aussagen von Zeitzeugen, Menschen kommen zu Wort, die unterschiedlicher nicht sein könn­ten: ein Bauer, der seit Urzeiten in Spreitenbaeh lebt und arbeitet, eine junge Frau, die erst vor kurzem in ein Wohnsilo gezogen ist, Passanten im Einkaufs-Center. Auch die Kamera gewährt ungewohnte Einsichten: Sie wirft nicht nur einen flüchtigen und oberflächlichen Blick auf die grauen Betonwände, sondern vermag die versteckte Schönheit und Faszination von Hochhäusern ausfindig zu machen. Selten zu­vor wurde ein so graues Thema derart farbig behandelt, so fundiert und zugleich phanta­stisch. Genauso «phantastisch» wie die Ge­schichte der Ortschaft, um die sich alles dreht.

Sandra Walser
geb. 1976, lebt als freie Journalistin und Studentin in Zürich.
(Stand: 2018)
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