CHRISTINE NOLL BRINCKMANN

DRINGLICHKEIT DES PRIVATEN — KUNDGABE UND SELBSTTHERAPIE IN DEN FILMEN ANNE CHARLOTTE ROBERTSONS

ESSAY

Anne Charlotte Robertson wurde 1949 geboren und entstammt der weissen Mittelschicht der amerikanischen Ostküste.1 Sie hat Literatur- und Theater­wissenschaft, Psychologie, Kunst sowie Filmgestaltung studiert und sich ihr ganzes Leben mit künstlerischer Praxis und Kunsttheorie auseinandergesetzt, als Intellektuelle und in der sinnlichen Konkretisierung von Malerei und Film. Ihr tätiges Leben ist dabei permanent überschattet von Krankheitsschüben, die Klinikaufenthalte erfordern, sie aus dem sozialen Leben und Beruf heraus-reissen und an die Armutsgrenze führen. Oft reicht das Geld nicht, um ihre Super-8-Filme zu entwickeln, und eine eigene Kamera ist ein Luxus, den sie sich jahrelang nicht leisten kann. Dabei arbeitet sie sehr bescheiden, ohne fremde Hilfe oder aufwendige technische Apparatur. Alle filmischen Funktionen, von der Performance und Ausstattung bis zur Kameraführung, Beleuchtung, Ton­aufzeichnung und Montage, liegen in ihrer Hand.

Sie lebt teils allein - wenn sie für eine Weile erwerbstätig ist -, teils in Insti­tutionen, teils bei der Mutter, die sie in vieler Hinsicht unterstützt. Freund­schaften oder Liebesbeziehungen zerbrechen immer wieder an der Krankheit, den Wahnvorstellungen, der Zwanghaftigkeit ihres Verhaltens. Mehr und mehr wird klar, dass Psychiatrie und Medikamente ihr nicht zu helfen vermögen, und sie verlegt sich auf die Lebensweise, die ihr am zuträglichsten ist - viel Ruhe und Abgeschiedenheit, Arbeit im organisch-biologischen Garten, eine vega-nische Diät -, und vor allem auf ihre persönliche Form der Eigentherapie, das autobiographische Filmen, das sie in eiserner Selbstdisziplin verfolgt.

Jeden Tag, so hat sie sich auferlegt, müssen ein paar Minuten Material be­lichtet werden, um das Gefilmte dem Fluss der Zeit zu entreissen, der Reflexion und der Welt zugänglich zu machen - oder ihrem potentiellen Geliebten und geistigen Zwilling, an dessen Existenz sie glaubt und dem sie eines Tages minu­ziös Rechenschaft über ihr bisheriges Leben geben möchte. Hinzu kommen akustische Aufzeichnungen, die als eine Art zweites Tagebuch fungieren und sich mit den Bildern verschmelzen oder konfrontieren lassen. In der Nach­bearbeitung, die oft erst nach langem Abstand in Angriff genommen wird, entstehen miteinander verwobene, mehrstimmige Collagen, in denen die Bilder auf verschiedenen Zeitebenen, aus verschiedenen Perspektiven, in verschiede­nen Tonlagen reflektiert werden. Die Montage des visuellen Materials erfolgt dagegen zurückhaltend - ohnehin sind viele Sequenzen bereits in der Kamera gestaltet. Robertson versucht die Authentizität ihrer Kameraführung weitge­hend zu erhalten, will die Vergangenheit nicht zensieren und entfernt meist nur technische Pannen oder gelegentlich, für ein grösseres Publikum, allzu intime Nacktaufnahmen, um keinen sexuellen Voyeurismus auszulösen.

Thematik und Motivik der Filme entstammen stets der eigenen Person, ihrem Alltag und den Gegenständen der unmittelbaren Nähe - es geht um ihre körperliche Erscheinung, die im Zuge von Essstörungen zwischen Magerkeit und Übergewicht pendelt, um Nahrungsmittel und Küche, den Inhalt des Müll­eimers, den Kompost, den Garten, Aussichten aus dem Fenster, um Erinne­rungsobjekte, Innenräume und Strassen. Die Super-8-Kamera (oder, in jüngerer Zeit, auch eine Videokamera) ist oft auf ein Stativ montiert, um Selbstaufnah­men zu gestatten, oft mobil und handgehalten als Ausdruck des eigenen Blicks. Filmt Robertson sich selbst, so bedeutet die Kamera eine Art Spiegel, mit dem sie in Dialog tritt, da sie die gefilmten Bilder bereits antizipiert, sich also ver­doppelt erfährt als Person in und als Person gegenüber der Kamera.

Das gestaltende Filmen hilft Robertson, ihre Störungen zeitweise in Schach zu halten, sich Tag für Tag, sowohl bei der Gegenwärtigkeit der Dreharbeiten wie bei späterer Montage, Ergänzung und Reflexion Klarheit über ihre Zu­stände zu verschaffen, sie zu analysieren, zu verstehen, zu bannen und zu Er­fahrungen gerinnen zu lassen, in denen ihre Existenz und Identität gespeichert ist. In dieser intensiven Verarbeitung und Überhöhung erfahren die Aufzeich­nungen eine ästhetische Verdichtung, werden zu Werken der Kunst und damit zu einer Lebensaufgabe. Denn nur, weil Robertson sich als Künstlerin ernst nimmt und weiss, dass sie über den privaten Rahmen hinaus für eine Öffent­lichkeit arbeitet, kann die Selbsttherapie gelingen. Dieser Verschränkung ent­springt auch der kommunikative Charakter des Werkes, dem die Konfrontation mit einem Du oder einem Publikum eingeschrieben ist, obwohl es zunächst und zutiefst eine Auseinandersetzung mit den Facetten und wechselnden Bewusstseinslagen des eigenen Ich darstellt. Robertson nimmt das Publikum mit hinein in dieses analytische Dokumentieren und Ringen des Selbst, erwartet und vertraut dabei auf Empathie und kathartische Wirkung auch bei anderen.

Anne Robertson macht keinen Hehl aus ihrer Krankheit, im Gegenteil. Neben den Filmen, die tiefe Einblicke gestatten, geben Interviews und andere Texte Auskunft über ihren Zustand; die enge Verflechtung von Leben und Werk soll für das Publikum einsichtig sein. Dies ist auch der Grund für eine Form der öffentlichen Vorführung, die von der üblichen Kinopraxis abweicht: Robertson bevorzugt es nicht nur, selbst anwesend zu sein, sondern bringt sich durch aku­stische Ad-hoc-Kommentare in die Projektion ein, um der Vielschichtigkeit ihrer Tonspuren noch eine weitere, einmalige und einzigartige Schicht beizu­fügen und die Geschehnisse auf der Leinwand um eine Live-Performance zu erweitern. Zum Charakter solcher Vorführungen gehört es auch, dass sie viele Stunden oder sogar Tage dauern (sogenannte «marathons») und dass der Raum mit persönlichen Objekten - eigenen Gemälden, Textilien, Haushaltsgegen­ständen - dekoriert ist, um das Publikum ganz in das Ambiente der Filme­macherin einzubetten: «to create a 3-D environment, so that even the intermissions are alive for the audience».2 Viele ihrer Filme verleiht Robertson jedoch auch einzeln und ohne persönliche Begleitung, die meisten wahlweise als Super-8-Kopie oder als Video, oder reicht sie bei Festivals ein. Während sie früher nur die Originale zeigen konnte, so dass manche Werke permanent beschädigt sind, haben ihr Anerkennungen und Preise in den letzten Jahren eine professionellere Praxis ermöglicht.

Ein relativ früher Film - 1979 entstanden, 1990 noch einmal leicht überarbeitet - trägt den Titel Suicide. Er entstand mit dem Gestus und den begrenzten Mitteln des Amateurfilms und versucht auch gar nicht, wie ein Kinofilm aus­zusehen. Im Gegenteil, die Entstehung aus und in der Privatheit der Filmemacherin ist ihm eingeschrieben. Suicide ist zwar autobiographisch, aber kein eigentlicher Tagebuchfilm. Denn neben den inzwischen wohl fünfzig Stunden währenden Dianes wählt Robertson gelegentlich eine thematisch gebundene Struktur, die sich in kurzen, eher sketchhaft-essayistischen Filmen konkreti­siert, Destillationen sozusagen von besonders bohrenden Problemkomplexen und Erfahrungen. Suicide, der nur acht Minuten dauert, entsprang nach einer Anzahl ernsthafter Selbstmordversuche der Hoffnung, die innere Aufforde­rung, sich das Leben zu nehmen, durch Ausagieren vor der Kamera und filmi­sche Gestaltung zum Schweigen zu bringen. Eine Hoffnung, die sich erfüllte: «The voiee of death was gone», wie sie in ihren Program Notes zum Film aus­führt. Dort erläutert sie auch den Kontext, in dem Suicide entstand:

I had been weeping and trying to escape into sleep for 3 years, yet working on a college degree, = many courses more than needed, - I had been in a horrible male-female relationship since 1973, had been abandoned and mistreated by relatives, friends, neighbors, and roommates, and gone through a nervous breakdown / hospitalization finally, all with my voice going on and on and on about suicide («voiees in the head») ... and all along, I could not understand: for I did not want to kill myself, but I was miserable ... I would pray for a minute of rest, someday an hour of rest, someday, oh God, one day of rest (and happiness) ...

Robertsons Intensität und schonungslose Selbstdarstellung verraten sich in die­sem Text, der ihrer Art, die eigenen Erfahrungen und Prozesse in den Filmen zu kommentieren, sehr nahekommt. Klammern, Auslassungspunkte, Hervorhebungen und Reihungen entsprechen ihrem filmischen Sprachduktus der Em­phase, Atemlosigkeit, Überwältigung, oft bis zur Tränenersticktheit, und ihrer analytischen Ichbetrachtung. Grosse Offenheit kennzeichnet alle Aussagen.

Der Film beginnt, nach einer kurzen, verstörenden Toncollage, in der das Wort «suicide» sich ständig überlagert, mit ein paar Abschiedsworten an die El­tern, während man Bauarbeiter auf einer nächtlichen Strasse sieht: keine insze­nierten Bilder, sondern ein Fund, aufgezeichnet im Augenblick des Entschlus­ses, den Film zu machen, da die neblige Düsternis, die gelbe Regenkleidung der Arbeiter, vor allem aber die grabartige Ausschachtung, die sie vornehmen, die Filmemacherin faszinierten. Ein poetisches Äquivalent zu Thema und Stim­mung des Films, das unheilvolle, qualvolle Assoziationen freisetzt, auch wenn es etwas Alltägliches zeigt. Zugleich dringt das aggressive Geräusch der Bau­maschinen in die Tonspur ein und dominiert sie als bohrende Störung über weite Strecken, während monotone Rezitationen des Wortes «suicide» oder Sätze wie «I wish I were dead», «I don't want to be alive», «I have to kill myself», «I don't want to live» in leiser, hastiger Wiederholung dagegen ankämpfen. Andere Bil­der schliessen sich an: die «Hölle» - in Form einer Menschenmenge - oder eine blinkende Alarmlampe, ein naheliegendes, sehr buchstäbliches Symbol, das aber, indem das Wort «suicide» im Rhythmus des Blinkens mitgesprochen wird, grosse innere Spannung erhält.

Gelb, die Farbe der Arbeiter/Totengräber, bildet auch den Grundton der zentralen Sequenz des Films und wirkt auch hier fahl, schwefelig, depressiv, nicht zuletzt durch die mangelnde Brillanz, und Dichte des Super-8-Materials, die hier bewusst genutzt werden. Die Filmemacherin sitzt am Küchentisch, nach links zur Tischplatte gewandt, auf der sie mit beiden Händen agiert. Die Kamera ist starr montiert, ebenfalls zur Platte hingeneigt, die so zur Arena des Geschehens wird, während Robertsons Kopf lieblos angeschnitten ist, ihr Ge­sicht allenfalls im Profil zu erkennen. Robertson inszeniert sich selbst, wie sie diese Arena nutzt, Pillen aus ihrem Behältnis schüttet, Wassergläser mit Wodka füllt, Revolver und Messer ausbreitet, diverse Selbstmordmethoden durch­spielt, andeutet, verwirft, erneut in Erwägung zieht. Die Bilder sind verfremdet durch Stoptrick, so dass die Gestalt am Küchentisch einerseits hektisch zu agie­ren scheint, andrerseits immer wieder abbricht, nicht weiterkommt, neu be­ginnt. Der Effekt ist eine Irrealisierung ins Grundsätzliche, Endlose, Ausweg­lose, eine Art Spirale des Versuchs, sich das Lehen zu nehmen, die jede Inszenierung vergessen lässt: die authentische Essenz des Wahns, der Zwang­haftigkeit und des Grauens.

Spätere Partien des Films sind direkter und destruktiver - ein Messer, das mit grösster Vehemenz in die «Haut» gestossen wird (ein Stück Stoff, das gleichwohl Florror auslöst); ein Hund vor verschlossener Tür, im Haus die leb­lose nackte Gestalt der Filmemacherin, die vor der blutverschmierten Toilette kauert. Oder auch weniger intensiv - Bilder der Erstarrung, ausgewiesen als Weg durchs Fegefeuer zur Hölle, bläulich getönte Landschaftsaufnahmen von winterlicher Kahlheit und tristem, eisigem Wasser. Zuletzt dann lodernde gelbe Glut: die Hölle eingelöst, und erneute Abschiedsworte, «Mom and dad, I am sorry», bis alles zergeht, ein letzter Lichtpunkt verglimmt und es auch auf der Tonspur still wird.

Es ist schwer, den Film in der Beschreibung einzufangen, und auch Stand­fotos würden ihm nicht gerecht. Allzu fragil und flüchtig sind die Einstellun­gen, teils verwischt oder verwaschen, teils glühend und destruktiv. Die Ton­spur, fast wichtiger als die Bilder, gibt ihnen Bedeutung, lädt sie auf. Sie geht auf untergründige Weise unter die Haut, einerseits durch die Folter der Geräusche, vor allem aber durch den physischen und sprachlichen Gestus der Stimme, die zwischen monotoner Resignation, Aggressivität, Verzweiflung oder leiden­schaftlichem Widerstand oszilliert und immer ganz nah am Ohr der Zuschauer­innen zu sein scheint. Der Voice-over vermag viele Register zu ziehen und mit einfachsten Mitteln eine subtile Vielschichtigkeit zu erreichen, indem er manchmal der Gestalt im Bild in den Mund gelegt, manchmal als späterer Kom­mentar, als lyrische Kundgabe oder auch direkte Ansprache (an die Eltern) for­muliert ist. Die Übergänge sind gleitend.

Die Program Notes enden mit Aussagen und Gedanken zur Auswirkung des Films auf Robertson ebenso wie auf ihr späteres Publikum. Sie formuliert sehr direkt, ohne Bescheidenheit, in einer Mischung aus Reflexion, Information und lyrischer Rhetorik:

The voiee of death was gone.

Catharsis?

Intense images?

Fright?

Sympathy for the person on the screen?

A füll work of art, a producQon?

(This was my 6th film).

If this film produces empathy, and prevents suieide, it sueeeeds.

It stopped the voiee (the voiees) cold.

It saved my Life.

Anne Robertsons A Short Affair (and) Going Crazy, dessen Material aus dem Jahr 1982 stammt und 1996 noch einmal bearbeitet wurde, stellt Teil 22 ihres Tagebuchzyklus five Year Diary dar und enthält, wie die Filmemacherin in ihren Program Notes präzisiert, «a compulsiva paranoid manic-depressive psychotic breakdown, following a briet love affair». Der Film wurde stumm ge­dreht, dann mit Musik und zwei sich überlagernden Voice-over vertont.

Robertson erzählt die Liebesgeschichte als vergangene, mit der Traurigkeit, die ihr von Anfang an innewohnte. Die ersten Bilder zeigen das Paar bei Tisch, weit auseinandergerückt und im Profil, in fahles gelbes Licht getaucht, im Zeit­rafferverfahren beschleunigt, mit lauter Popmusik untermalt; schon hier wird deutlich, dass wenig «Liebe» oder Intimität zwischen beiden besteht. Am näch­sten Morgen beobachtet sie ihren Gast im Schlaf, erbeutet sich sozusagen die Intimität, die sie ersehnt, oder nimmt eigenmächtig Abschied. Die schönen, in zartes, wechselndes Licht getauchten Aufnahmen, von der Handkamera als in­tuitive Impressionen und Gesten der Zuwendung gestaltet, gewinnen rasch an Ambivalenz. Robertson sinniert auf der Tonspur, ob er wirklich so tief, fast kindlich schläft oder vielleicht nur posiert, sich entzieht. Als er sich schliesslich weggedreht hat, ohne sie anzusehen, versteht sie, dass er die Filmerei über sich ergehen Hess, die Affäre jedoch für ihn vorbei ist.

Robertson dagegen stürzt in das psychische Ghaos, das sich von Anfang an ankündigte. Schon vor den Aufnahmen des Schlafenden stand ein kurzes Selbstporträt, das die Verfassung der Ich-Person preisgab. Von anderer Art als die übrige Darstellung in Farbgebung, Tempo, Distanz, Kadrage und Aussage, zeigt es flackernde Grossaufnahmen in äusserst expressiver Mimik. Zunächst angeschnitten, ohne die Augen, wirkt Robertsons schmales, transparentes Ge­sicht sehr verletzlich und verletzt; ihre Zeigefinger fahren prüfend und demon­strierend über die Partie unter den Augen, die gerötet und verquollen ist, als habe sie lange geweint. Dann das ganze verquälte Gesicht im Bild und ein Lächeln als Ausdruck flüchtiger Tapferkeit, das sofort abgebrochen wird, dem eigenen Blick nicht standhält. Denn die Kamera dient als Spiegel, als ob sich die Filmemacherin seihst gegenübertreten wollte, um sich ihrer Bewusstseinslage, ihrer Identität und Wirklichkeit zu vergewissern.

Zugleich fungiert das Porträt als Verankerung der freiflottierenden Stimme(n) oder überhaupt als Basis auch für das Publikum, sich die Ich-Person zu vergegenwärtigen. Solche Selbstporträts kommen später im Film (und anderen Filmen) immer wieder vor, teils noch kürzer, teils auch als längeres Segment, in dem wir Robertson in dem unheilvoll hellgelben, irrealen Licht sehen, das sie bevorzugt. Line Möglichkeit der Vcrklammerung, die sie in ihren Filmen oft wählt, insbesondere auch für die lyrischen Motive, die sie ästhetisch verklärt, oder die Objekte der Obsession. Die lineare Erzählung eines Prozesses wird auf diese Weise gebrochen, die eigentliche Struktur der Filme ist Ballung, nicht Reihung, und die zeitliche Logik wird irrelevant.

Die lange, in grosser Bilderfülle dokumentierte Krise beginnt mit den Wor­ten «I began sorting my garbage, I was hunting». Ahnlich wie bei den Aufnah­men der Tischplatte in Suicide steht die Kamera auf dem Stativ, und sie blickt von oben, verkantet und starr, in einen Mülleimer mit dunklen, organischen Abfällen. Keine subjektive Perspektive der Wahrnehmung, sondern ein Zeigen, eine Demonstration. Obwohl, oder gerade weil Robertsons Gestalt oder ihre Hände seitlich im Bild sind und ihre persönliche Blickachse verraten, wirkt diese Kameraposition seltsam fremdbestimmt. Sätze wie «everything had to be filmed» bringen auch auf der Tonspur zu Bewusstsein, wie zwanghaft Robert­son zu manchen Zeiten arbeitet. Im Falle der Müllaufnahme und vieler anderer in dieser Weise fokussierten Motive weist sie der Kamera den Status einer Zeu­gin zu, wodurch zugleich auch die Objekte sich als selbständig, als unabhängig real behaupten. Als wolle sie sich vergewissern, wie die Welt um sie herum exi­stiert, während ihre eigene Wahrnehmung aus den Fugen gerät, oder als gewinne die gefilmte Handlung im Akt der Aufnahme erhöhte Bedeutung, komme in besonderer Weise zu Bewusstsein, oder als gelte es, alles Relevante zu speichern, um darüber Rechenschaft abzulegen. Denn der Film ist ja nicht nur an die eigene Person, sondern zugleich an andere adressiert, und daher Reflexion, Erkun­dung, Kontemplation, gespeicherte Erinnerung, Demonstration, Kundgabe, Bericht, Aktion, Appell in einem, und viele Aufnahmen künden von dieser Multifunktionalität.

Going Crazy fliesst, springt, stockt, verharrt in den Erfahrungen der Krise. Keine klare Progression oder absichtsvoll dramatische Steigerung, eher ein Kommen und Gehen von Stimmungen, Symptomen und Motiven und eine all­mählich zunehmende Brüchigkeit der Kommentare. Doch auch hinter schein­bar friedlichen Stilleben, dem nächtlichen Mond, Blumen, Gemüse oder einer Schnecke, die versehentlich mitgekauft wurde, scheint eine verzweifelte, ver­einsamte Sehnsucht zu stehen, in solchen organischen Dingen aufzugehen. An­dere Bilder, aus subjektiver Sicht betrachtete Objekte, entspringen weniger dem poetischen Verweilen als der Obsession und dem Ekel. So zum Beispiel eine Sequenz über Abfall aus Plastik, der allenthalben auf der Strasse herum­liegt und nicht biologisch zergeht wie Kompost; ein ökologisches Anliegen, verschärft und entgleist in der Krise der Krankheit. Dazwischen Szenen, die den gemeinsamen Drogenkonsum mit Freunden zeigen oder ein Abendessen mit der Mutter oder im Zeitraffer gefilmte physische Gesten: Robertson in ihrem Ambiente, wie sie sich ihrem Spiegel, der Kamera, auf körpersprachliche Weise mitteilt, sich im Raum verhält und situiert. Einmal versucht sie, mit dem Geliebten zu telefonieren; später umkreist sie eine Statue im Park, die ihm ähn­lich sieht, und ihre Gefühle verschieben sich ins Imaginäre.

Trotz, aller Flüchtigkeit der Bilder ist in ihnen viel fassbare Realität und lebendige Finergie gespeichert - ein Widerstand gegen das psychische Chaos, den Robertson der Kamera verdankt. Die Stimme(n) dagegen kommen auf beängstigende Weise aus dem Lot, überlagern sich bis zur Unverständlichkeit, die Sätze zerbrechen in schwebende Fragmente. Der Film endet mit einem resignativen «I don't know» vor der bereits dunklen Leinwand.

Apologics beschreibt den Wahn, sich ständig entschuldigen, um Verzeihung bit­ten zu müssen, und hat die Struktur einer Performance, durch die der Teufel dieses Wahns ausgetrieben werden soll. Ähnlich Suicide entsprang das Projekt einer gezielten Selbsttherapie, und auch Apologies ist daher kein eigentlicher Tagebuchfilm, dokumentiert nicht eine Lebensperiode, sondern behandelt, be­kämpft ein spezifisches Problem. Der Film entstand zwischen 1983 und 1990, also in einem Zeitraum von sieben Jahren, während deren Robertson immer wieder auf das Thema zurückkam und immer neue Segmente beifügte (die nur zum Teil Aufnahme in den endgültigen, 17 Minuten langen Film gefunden haben).

Die offenbar schleichende Kraft der Störung, die immer wieder auflebte, mag sich in dieser Produktionsgeschichte ausdrücken, erklärt aber nicht die ag­gressive Energie und Nachhaltigkeit, mit der Apologies das Publikum verstört. Zwar enthält der Film auch Momente der resignativen Selbstzurücknahme und des depressiven Zweifels an der eigenen Lebensberechtigung, aber er überfährt diese Tonlagen sozusagen, indem Robertson sich immer wieder rabiat dazwischendrängt und die depressiven und analytischen Töne ausräumt. Dass die ewige Selbstanklage und Selbstabwertung eine spezifisch weibliche Sucht dar­stellen, ist ihr nur allzu bewusst, und die Leidenschaft, mit der sie das Problem angeht, entspringt nicht zuletzt dem Ärger über dieses kulturelle Erbe, das sich wie ein Fremdkörper eingenistet hat.

Der Film gibt sich von Anfang an selbstreflexiv und interaktiv. Robertson, in bedrängender Grossaufnahme, spricht und blickt direkt in die Kamera, lautstark, uncharmant, mit zu viel Emphase, überzogener Mimik und unzufrie­den lamentierendem Ton. Sie ignoriert den gedruckten Titel Apologies, der die Kopie eröffnet, um mit dem (imaginären) Publikum darüber zu diskutieren, wie man das Wort schreibt, und Tafeln mit den Varianten «apologys» und «apo­logies» hochzuhalten, sich übertrieben zu entschuldigen und <den Fehler schliesslich zu korrigieren. Sie hat deutlich gemacht, dass sie mit spielerischer Distanz agiert, aber auch, dass das Thema sie quält und verärgert und dass sie gedenkt, diese Gefühle ans Publikum weiterzugeben.

Der Rest des Films ist eine einzige Tour de force, in der eine Lawine von Entschuldigungen auf das Publikum niedergeht: «I apologize», «I am sorry», «damn it, I am sorry», «I'm sorry I said that», «excuse me», «here I am, apologizing and talking too much», «I am sorry, I apologize» und so fort ad infini-tum, ad absurdum geführt durch die Nichtigkeit der Anlässe, den Exzess der Wiederholung oder durch verwickelte Formulierungen wie «I am sorry you may feel you may have to forgive me for something you would never have known you had to forgive me for unless I had apologized for it».

Robertson entlädt ihre Entschuldigungen an verschiedenen Orten, in die sie sich verkriecht, als seien es gleichsam Strafecken. Meist hält sie eine Ziga­rette oder einen Becher Kaffee in der Hand, Genussmittel, die sie wie illegale Drogen zum Mund führt. Wir sehen sie, oft von Segment zu Segment in gegen­läufiger Ausrichtung, beispielsweise mit hochgezogenen Schultern im Cafe, das Gesicht zu nah am rechten Bildrand und von der Kamera fast abgewandt; auf dem engen Balkon, aber nicht ins Freie, sondern gegen die Hausmauer gekehrt; ins Fenster des Badezimmers gekauert; bei schlechtem Licht in ein dumpfiges Bett verkrochen oder nackt im hintersten Winkel des Hauses. Die Aufnahmen sind statisch, nur durch Gestik, Mimik und die nervöse, enervierende Stimme aktiviert.

Dazwischen stehen kurze Momente, die alle demselben Material entstam­men, in denen Robertson sich frontal nach vorn stürzt, in freier, vehementer Bewegung auf das Publikum zu, als wolle sie es einschüchtern oder anspringen. Die Filmemacherin nutzt hier das ganze Potential des filmischen Dispositivs, das die Zuschauer bewegungslos fixiert, aber der Bewegung ihres spiegelartigen Leinwand-Gegenübers so ausliefert, dass sie sie imaginär, quasi am eigenen Leibe nachvollziehen müssen. Der Strang dieser vehementen Konfrontation sorgt zugleich für eine interessante und bedeutsame Zeitstruktur, da sich die Aufnahmen achronologisch zwischen früher Gefilmtes drängen, dasselbe Thema in gereizterem Ton behandeln und zugleich auf andere Segmente rekur­rieren. Robertson macht dies schon zu Beginn selbstreflexiv bewusst, wenn sie im intermittierenden Strang auf eine spätere Stelle des Films verweist - «sorry, I have a nervous breakdown at the end of the film, where I am taking off my clothes». Wie bei ihren anderen Filmen, in denen es durch neuere Stimmen zu simultanen Schichtungen kommt und aus verschiedenen zeitlichen Warten ge­sprochen werden kann, erleben die Zuschauerinnen auch in Apologies verschie­dene Stadien der Auseinandersetzung, die hier vom depressiven Eingeständnis des Zwangs bis zur Auflehnung und zum aktiven Exorzismus reichen.

Das Sich-Entschuldigen für Kleinigkeiten, im Alltag ein Akt milder, höf­licher Zerknirschung, ist in diesem Film zur rhetorischen und physischen Ag­gression geworden. Doch nur so war der Dämon auszutreiben. Apologies ist kein bequemer Film; er ist äusserst intensiv und anstrengend, teilweise verblüf­fend und gewitzt, teilweise peinlich, vielfach aufrührend, bedrängend, bestür­zend durch seinen hysterischen Ton, am Sehiuss erschöpfend und lösend. Fast scheint es zuviel, zu aufgesetzt, wenn Robertson nach dem Endtitel triumphie­rend fragt: «But you know what? I am not sorry I made this film. I want to ask you: Are you sorry?»

In einem Interview mit Scott MacDonald spricht Anne Robertson darüber, wie lebenswichtig das Filmemachen für sie ist.3 Jonas Mekas' berühmter Satz: «I make home movies - therefore I live», gewinnt für sie noch emphatischere Be­deutung als für ihn, da die Arbeit am Film sie buchstäblich von dem Wahn be­freit hat, sich das Leben nehmen zu müssen, und die Disziplin des Drehens ihr Tag für Tag hilft, die Krankheit in Schach zu halten (auch wenn sich immer neue Problemkomplexe einstellen mögen, erneute Zusammenbrüche sich ereignen). Die Dinge kommen in Fluss und können mit anderen Augen betrachtet wer­den, sobald sie von der Kamera erfasst und zu einem Werk gestaltet sind:

«Every subject has been affected by being included in a film.» Auch die Ver­öffentlichung der privatesten Probleme, die normalerweise unter Verschluss bleiben, wird möglieh: «I can handle things, once they're on film.» Rückfälle in die alten Bahnen werden nicht ausgelöst.

Natürlich kann sich diese therapeutische Wirkung nicht voll und in sym­metrischer Weise auf das Publikum erstrecken, selbst wenn die Filme manch­mal eine kathartische Funktion erfüllen mögen, wie Robertson sie sich erhofft. Denn weder haben die Zuschauer den Flntstehungsprozess mit durchlaufen, noch sind sie der gleichen inneren und äusseren Realität ausgeliefert wie die Filmemacherin. Schon die Motive, die Robertson faszinieren - wie organischer Abfall oder die Farbe Gelb -, werden bei anderen Menschen mit je anderer Wertigkeit und anderen Assoziationen besetzt sein, so dass die Bedeutung der Gegenstände, die oft ohne weitere Erläuterung, auf impressionistische Weise im Werk präsent sind, sich nur zum Teil erschliesst: Filmt sie ein Objekt, weil es ihr gefällt («I take pictures when I find something I really like») oder weil es sie stört, sie sich davon befreien will («I thought I'd focus on all the things I ever did that were wrong»)? Ist zum Beispiel die Kaffeetasse Ausdruck des Genus­ses oder der Selbstkritik, der Sucht? Dasselbe gilt für Gesicht und Körper der Filmemacherin, die man zunächst von aussen, als Fremde wahrnimmt, als sym­pathisch oder unsympathisch einzusehätzen sucht oder daraufhin beobachtet, welche Informationen und Gefühle sie vermitteln will. Nur allmählich er­schliesst sich der Ich-Standpunkt, die Ebene der Selbstreflexion und des bewussten Ausagierens quälender Zwänge - und nie wird man wirklieh wissen, mit welchen Empfindungen Anne Robertson sich selbst betrachtet.

Doch Ungewissheiten und Ambivalenzen solcher Art kennzeichnen im Grunde die Rezeption aller persönlichen und autobiographischen Kunstwerke, die nicht auf festen Konventionen und Registern beruhen. Robertson bemüht sich im Bewusstsein ihrer psychischen Besonderheiten eher mehr als andere Künstlerinnen, ihr Werk zu erklären, mit dem Publikum zu kommunizieren, und sie vermag damit viele Verständnishürden abzubauen, die ihrer Persönlich­keit und spezifischen Wahrnehmung entspringen, und tiefe Einblicke in ihre Zustände zu vermitteln. Ausserdem bedeutet in einem solchen Werk nicht jede Unerschlicssbarkeit den Ausschluss des Publikums. Wo bestimmte Bilder oder Worte ihren spezifischen Bedeutungsgehalt nicht eröffnen, wird die Struktur der Darstellung, die Sensibilität der Form zur Aussage, die oft mehr vermitteln kann, als die gelegentliche Enigmatik verhüllt. In gewisser Weise ähneln die Einblicke, die eine solche gespeicherte Vergangenheit den Zuschauerinnen er­laubt, dem Einblick in die Hinterlassenschaft von Toten: Sie verraten, wie diese mit sich und ihrer Erinnerung umgegangen sind, ob oder dass ihnen etwas wichtig war; vieles verströmt eine tiefe, intime Bedeutung, löst Betroffenheit, Unbehagen, Bedauern, Zuneigung, Verständnis und Faszination aus, wird aber niemals alle Geheimnisse preisgeben.

Für die Zuschauerinnen enthält der autobiographische Film auch die An­regung, analogisierend in sich selbst hineinzuschauen, Parallelen und Unter­schiede zu suchen, sich mit sich selbst zu konfrontieren. Oder, mit den Worten Jay Rubys, der Leistung und Reiz filmischer Selbstdarstellung beschreibt: «It is not that the filmmaker has made a record of himself, but rather that he has devcioped a manner of showing the seif.»4 Im Falle Anne Robertsons, deren Krankheit sie so einschneidend aus dem «normalen» Alltag ausschliesst, ver­mögen die Filme gleichwohl, eine solche Analogie zu eröffnen.

Die biographischen Ausführungen hissen im wesentlichen auf einem Interview, das Scott MacDonald mit Anne Robertson geführt und in der Zeitschrift Cinematograph der San Fran­cisco Cinematheque, Jg. 4 (1991), sowie seinem Hand A Critical Cinema 2: Interviews with In-dependent Fümmakers, Berkeley und Los An­geles 1992, S. 206-219, veröffentlicht hat; aus­serdem auf unpublizierten Program Notes der Filmemacherin, die sie zu ihren Filmen verteilt.

Aus den unpublizierten Program Notes zu dem Filmzyklus Pivc Ycar Diary.

MacDonald (wie Aiim. 1), S. 210.

Jav Ruby, «The Celluloid Seif», in: John Stuart Katz (Hg.), Autobiography. film/Video/ Photography, Katalog der Art Gallery of Ontario, 1978, S. 8

Die Anregung zu diesem Aufsatz, stammt vonWilbirg Donnenberg, die mich mit dem Werk Anne Robertsons bekannt machte und mich einlud, auf dem von «Sixpack» organisierten Wiener Sympo­sion «Frauen und Wahnsinn im Film», das im April 1998 in Wien stattfand, darüber zu sprechen.

Christine Noll Brinckmann
geb. 1937 in China, seit 1989 Ordinaria für Filmwissenschaft an der Universität Zürich. Sie gab 1991 das Buch Der amerikanische Dokumentarfilm der 60er Jahre (Frankfurt am Main) heraus.
(Stand: 2019)
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