KATHRIN HALTER

LEAS BRUDER (JOSY MEIER)

SELECTION CINEMA

Bekannt wurde Josy Meier mit zwei Doku­mentarfilmen aus der Zürcher Drogenprostitu­ierten- und Stricherszene (Der Kunde ist König von 1991 und Wild Boy von 1994). Leas Bruder ist ihr erster (kurzer) Spielfilm. Mit viel Sensi­bilität für die kindliche Gefühlswelt - und für den Umgang mit Kinderdarstellern - zeigt Josy Meier die Einsamkeit eines Mädchens (Lea Michel) in einem Kinderheim, das vergeblich dem Moment entgegenbangt, in dem es von sei­nen Eltern nach Hause geholt wird. Unter den Kindern ist Lea isoliert, auf die subtil-erpresse­rischen Methoden der Erzieherin reagiert Lea mit Verweigerung sowie kleinen Racheaktio­nen - und rettet sich in eine schützende Ima gination: Fun kleiner «Bruder» (Django Bär) ruft sie nachts mit flüsternder Stimme ins Bade zimmer. Da hegt es am Boden, ein hilfloses, liebesbedürftiges Bündelchen, das ihren Bei­stand beim Pinkeln braucht, das beschützt und getröstet werden will. Ihrem Bruder, diesem Spiegelbild ihrer eigenen Ängste und Sorgen, kann Lea sich in nächtlichen Zwiesprachen an­vertrauen. Und mit ihm wird sie sich schliess­lich auf und davon machen, als endgültig klar wird, dass man sich auf die Grossen nicht ver­lassen kann.

In seiner leicht didaktischen, formelhaften Erzieherschelte erinnert Leas Bruder stark an Fredi Murers Erwachsenenkritik in Vollmond: Im Umgang mit Kindern sind Eltern und Er­zieher mit Blindheit geschlagen, gleichgültig oder allzu selbstbezogen; den Kleinen bleibt da nur mehr die (innere) Flucht. Wie sagt Lea am Schluss zu ihrem Bruder, als die beiden in ihre wacklige Seifenkiste steigen und himmelwärts abheben? «Irgendwohin wo s kai Grossi hätt.»

Die berührende Wirkung des Films ent­stammt vor allem der Unmittelbarkeit, mit der Meier mitten in die kindliche Erlebniswelt hin­einführt. Blaues Licht, belebte Spielzeuge, eine monotone Klangkulisse rücken Leas nächtliche Begegnungen mit ihrem Bruder in ein traum­haft-irreales Licht, und dennoch mag man an dessen Existenz keine Sekunde zweifeln. Wenn die Geschwister schliesslich im Keller Feuer legen, das Geschrei der Erzieherin aber keinen Zweifel daran lässt, dass da wirklich ein Feuer lodert, hat Leas Vorstellungskraft endgültig Oberhand über die filmische Erzähllogik ge­wonnen.

Kathrin Halter
geb. 1965, Studium der Germanistik, Filmwissenschaft und Europäischen Volksliteratur in Zürich, u.a. freie Mitarbeit als Filmkritikerin beim züritipp, lebt in Zürich.
(Stand: 2018)
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