Bekannt wurde Josy Meier mit zwei Dokumentarfilmen aus der Zürcher Drogenprostituierten- und Stricherszene (Der Kunde ist König von 1991 und Wild Boy von 1994). Leas Bruder ist ihr erster (kurzer) Spielfilm. Mit viel Sensibilität für die kindliche Gefühlswelt - und für den Umgang mit Kinderdarstellern - zeigt Josy Meier die Einsamkeit eines Mädchens (Lea Michel) in einem Kinderheim, das vergeblich dem Moment entgegenbangt, in dem es von seinen Eltern nach Hause geholt wird. Unter den Kindern ist Lea isoliert, auf die subtil-erpresserischen Methoden der Erzieherin reagiert Lea mit Verweigerung sowie kleinen Racheaktionen - und rettet sich in eine schützende Ima gination: Fun kleiner «Bruder» (Django Bär) ruft sie nachts mit flüsternder Stimme ins Bade zimmer. Da hegt es am Boden, ein hilfloses, liebesbedürftiges Bündelchen, das ihren Beistand beim Pinkeln braucht, das beschützt und getröstet werden will. Ihrem Bruder, diesem Spiegelbild ihrer eigenen Ängste und Sorgen, kann Lea sich in nächtlichen Zwiesprachen anvertrauen. Und mit ihm wird sie sich schliesslich auf und davon machen, als endgültig klar wird, dass man sich auf die Grossen nicht verlassen kann.
In seiner leicht didaktischen, formelhaften Erzieherschelte erinnert Leas Bruder stark an Fredi Murers Erwachsenenkritik in Vollmond: Im Umgang mit Kindern sind Eltern und Erzieher mit Blindheit geschlagen, gleichgültig oder allzu selbstbezogen; den Kleinen bleibt da nur mehr die (innere) Flucht. Wie sagt Lea am Schluss zu ihrem Bruder, als die beiden in ihre wacklige Seifenkiste steigen und himmelwärts abheben? «Irgendwohin wo s kai Grossi hätt.»
Die berührende Wirkung des Films entstammt vor allem der Unmittelbarkeit, mit der Meier mitten in die kindliche Erlebniswelt hineinführt. Blaues Licht, belebte Spielzeuge, eine monotone Klangkulisse rücken Leas nächtliche Begegnungen mit ihrem Bruder in ein traumhaft-irreales Licht, und dennoch mag man an dessen Existenz keine Sekunde zweifeln. Wenn die Geschwister schliesslich im Keller Feuer legen, das Geschrei der Erzieherin aber keinen Zweifel daran lässt, dass da wirklich ein Feuer lodert, hat Leas Vorstellungskraft endgültig Oberhand über die filmische Erzähllogik gewonnen.