GIAN LUCA FARINELLI / NICOLA MAZZANTI

DIE TÜCKEN DER KINOVORFÜHRUNG

ESSAY

Ein Ereund, der es wissen muss, vergleicht die Filmprojektion mit dem Rönt­gen im Schulterbereich: In beiden Fällen ist eine korrekte Durchführung last unmöglich, weil zu viele Faktoren mitspielen. Wegen schlechter Projektionen haben wir Cinephilen im Kino schon unendliche Leiden ausgestanden; nun wollen wir einmal versuchen, deren Ursachen zu erfassen, wobei die folgende Zusammenstellung keinerlei Anspruch auf Systematik oder Vollständigkeit erhebt.

Einige der Probleme gründen unmittelbar im Wesen und der Geschichte des Films, der als ein Medium noch des 19. Jahrhunderts zwischen Performance und Playback steht. So kann wohl ein und dieselbe Filmkopie an diversen Orten vorgeführt werden, die Projektion jedoch - das lehrt die Erfahrung -jeweils derart unterschiedlich sein, dass im Endeffekt völlig verschiedene Vorführungen stattfinden. Überhaupt drängt sich allmählich der Gedanke auf, dass dem Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit nur der Film (der materielle Filmstreifen) zugehört, während das Kino (das Ereignis der Filmvorführung) mit ähnlichen Risiken verbunden bleibt wie ein Konzert oder das Ausstellen eines Bildes. Zählen wir einmal die wichtigsten Variablen auf.

Der Kinosaal

Die Kinos, die wir heute besuchen, lassen sich in zwei Typen aufteilen: Entwe­der sind sie älteren Datums oder neu. Die älteren entstanden in einem bestimm­ten Moment der Filmgeschichte, und ihre Bauweise entspricht den technischen Erfordernissen und den Moden zum Zeitpunkt ihrer Entstehung. Kinos aus der Epoche des Stummfilms weisen die Grundstruktur eines Theaters des 19. Jahr­hunderts auf. Solche aus den dreissiger oder vierziger Jahren sind für eine fast quadratische Leinwand konzipiert, während bei den nach der Einführung von Ginemascope und der Anti-Fernseh-Grossformate (also ab Ende fünfziger Jahre) erbauten Sälen mit ihren riesigen Leinwänden architektonisch die Di­mension der Breite und nicht jene der Länge dominiert. In jedem Fall ist ein Kinosaal für einen ganz bestimmten technischen Entwicklungsstand der Kine­matographie - jenen seiner Entstehungszeit - gedacht und gebaut und folglich ungeeignet für die Vorführung von Filmen aus einem früheren oder späteren Entwicklungsstand.

Ist das Kino neu, so handelt es sich mit grosser Wahrscheinlichkeit um einen Vorführraum in einem Multiplex: eine schreckliche Krankheit. Die Architekten schieben Volumen herum, um aus einem Minimum von Raum eine maximale Anzahl von Vorführsälen herauszuschinden. Dabei entstehen Missgeburten, zu lang, zu schmal, zu steil ... - volumetrische Scherze eben, frei von jeglicher Rücksicht auf die wesentlichsten Faktoren bei der Rezeption einer Filmvor­führung, etwa das proportionale Verhältnis von Saalgrösse und Leinwand oder die Distanz, der Zuschauerinnen zu Leinwand und Lautsprechern oder die Ab­stände zwischen Sitzen und Sitzreihen. Es scheint leider für einen Architekten nichts leichter zu sein, als diese grundlegendsten Gesichtspunkte ausser acht zu lassen und sich um dreitausend Jahre Erfahrung mit der Konstruktion von Räumen für Schaudarbietungen zu foutieren.

Übergehen wir kleine Details wie unbequeme Sessel, welche die Zuschauer­innen möglichst vertreiben oder zwischen sich und dem Vordersessel einklem­men wollen, und wenden wir uns gleich einem Problem zu, von dem man den­ken würde, dass es sich gar nicht erst stellt: Es wäre doch, denkt man, davon auszugehen, dass es in einem Kino dunkel ist beziehungsweise dass sich die Leinwand, wenn nicht gerade projiziert wird, im Dunkeln befindet und nicht im Bereich irgendwelcher Lichtquellen.

Nach unserer Erfahrung gibt es jedoch in etlichen Kinos viel Licht, welches auf die Leinwand fällt und die Wahrnehmung ganzer Teile der Projektion stark beeinträchtigt. Licht kann aus den Gängen kommen, den Notausgängen, den Projektionsfenstern und, häufig, aus den Korridoren der Logen, des Balkons. Wir wollen uns nicht lange bei den Leuchttafeln über den Notausgängen (und gegebenenfalls auch Toilettentüren) aufhalten, erlauben uns aber doch die Frage, ob es für die Sicherheit des Publikums denn unbedingt nötig sei, einen Saal mit Leuchtschriften zu tapezieren, welche, grell wie Verkehrssignale, man­che Kinos in die reinsten Autobahnausfahrten verwandeln.

Und schliesslich der Ton, jener Bereich also, auf den sich die Filmindustrie während der letzten zwanzig Jahren hauptsächlich konzentriert hat. Das Dol­by-Logo in den Eingängen und Vorräumen ist dem Publikum längst vertraut, ebenso das Gewucher grosser und kleiner Lautsprecherkästen an den Wänden der Kinos oder die digitalen Werbctrailers, aber niemand hat sich je die Mühe genommen zu erklären, was da eigentlich genau passiert. Die Zuschauerinnen registrieren bloss, dass zum Ende dieses Jahrtausends sich mit dem Ton etwas ändert, und die Kinos sind darum bemüht, sich den technologischen Neuerun­gen anzupassen.

Ein Kino mit Dolby auszustatten bedeutet nicht nur, in eine technische Ausstattung zu investieren - wobei sehr unterschiedliche Qualitätsniveaus und Preisklassen zur Auswahl stehen -, sondern auch, mit einiger Regelmässigkeit den Standard der Tonqualität zu kontrollieren, da dieser nicht ein für allemal fixiert werden kann, sondern sich immer wieder verändert. Leider sind aber nur die wenigsten Kinos bereit, in diesen zwei Punkten - Qualität der Installation und Kontrolle - das Optimum zu leisten, mit den uns allen nur zu bekannten Folgen. Die Geräuscheffekte sind zu laut im Vergleich zu den Dialogen, welche, kaum mehr verständlich, irgendwo weit hinten auf einer zweiten oder dritten Ebene stattfinden.

Wir haben noch eine weitere Kritik anzubringen, die freilich eine Frage des persönlichen Geschmacks ist. Aber möglicherweise haben einige Leserinnen dasselbe Gefühl wie wir, nämlich dass der digitale Sound mit seinen irreal-per­fekten Klängen und seiner totalen Stille uns der kleinen Unvollkommenheiten, des Knisterns der Realität beraubt, welche bis anhin ein wesentliches Element der Rezeptionserfahrung einer Filmvorstellung ausmachten. Und geht Ihnen nicht allmählich auch auf die Nerven, dass brennende Kerzen wie Dynamit­explosionen knattern, Feueranzünder wie Panzertüren zuknallen und Küsse an gurgelnde Wasserleitungen erinnern? Fühlen Sic sich nicht auch von diesem Ton, schön und charakterlos wie ein fabrikneues Auto, in einer Welt seriell ge­fertigter Geräusche eingeschlossen, wo nichts mehr an den Reichtum der realen Geräuschwelt erinnert? Doch das gehört eigentlich zu einer anderen Frage­stellung.

Die Projektionskabinen

Verlassen wir den Kinosaal, und steigen wir in die Kabine hinauf. Hier zeigt sich ein riesiger Unterschied zwischen anderen Schaukünsten und dem Kino. Erstere haben dem technischen Personal für seine Arbeit stets einen grossen Raum zur Verfügung gestellt. Das Kino nicht. Für gewöhnlich sind Projek­tionskabinen kleine, ungemütliche und von Maschinen verstellte Räume, in denen es mühsam und unbequem ist zu arbeiten. Dazu kommt ein grundsätz­liches, strukturelles Problem: Aus Sicherheitsgründen muss die Kabine vom Saal getrennt sein. Deshalb kann der Operateur in vielen Fällen von seiner Ka­bine aus den Film nur schlecht sehen, und vor allem hört er nicht den Saalton, sondern den Ton eines Kontroilautsprechers. Manchmal liegt der Füngang zur Kabine in relativ grosser Entfernung zum Saal, die Räume sind vollkommen separiert, und der Operateur kann nicht vom einen zum andern hin- und her­gehen. Seine Wahrnehmung der Filmprojektion findet also unter ganz anderen Bedingungen statt als diejenige des Publikums im Saal, und das ist eine Quelle vieler Übel.

Nun zu den Maschinen. Leider sind die Projektoren in den Kabinen in vielen Fällen nicht auf der Höhe der Möglichkeiten. Eine Schwachstelle sind insbesondere die Lampengehäuse, meist unterdimensioniert im Verhältnis zur Saal- und Leinwandgrösse; die Spiegel, die das Licht im Projektor auf das Ob­jektiv lenken, brauchen eine gewisse Pflege, die ihnen oft abgeht; die Objektive können von Anfang an mangelhaft sein, in jedem Fall aber altern sie und wer­den anfällig für Defekte. Das alles führt dazu, dass das Projektionslicht nicht weiss ist (wie es sein sollte), sondern gelblich, und dass es ungleichmässig auf die Leinwand fällt. Beide Störungen - sie können gravierende bis katastrophale Ausmasse erreichen - werden deutlich sichtbar, sobald man ohne eingespann­ten Film Licht aus dem Projektor auf die Leinwand fallen lässt.

Es gibt weitere Faktoren, wie die Lampe mit ihrer auf eine bestimmte Stun­denzahl begrenzten Lebensdauer, welche nicht selten weit über diese Limite hinaus im Einsatz bleibt, oder die Masken (auch Formatschieber genannt). In einer Projektionskabine müssten heute im Minimum vier verschiedene Masken vorhanden sein (1:1.37 - 1:1.66 - 1:1.85 - 1:2.35), normalerweise aber stehen nur deren zwei (1:1.85 und 1:2.35) zur Verfügung. Sollte ein Regisseur auf die unglückselige Idee gekommen sein, das Academy-Format (1:1.37) zu benutzen, sehen wir mit grösster Wahrscheinlichkeit den Film im Kino nur teilweise - mit oben und unten durchwegs stark beschnittenem Bild.

In einer Kabine stehen traditionellerweise zwei Projektoren, die nie über­einstimmen, weil sie zu verschiedenen Zeitpunkten angeschafft oder im Lauf der Jahre in unterschiedlicher Weise modifiziert wurden. Doch selbst quasi identische Projektoren haben nie das genau gleiche Licht und vor allem niemals die gleiche Projektionsachse: Einer ist immer etwas weniger scharf, und die Pro­jektion, welche in zwei Teilen stattfindet, kann gar nicht durchgehend homo­gen sein.

In den Multiplex-Kinos werden normalerweise vollautomatische Projekto­ren benutzt. Diese Maschinen vereinfachen die Arbeit des Operateurs in hohem Mass, und seine Anwesenheit in der Kabine ist nur noch zu Beginn der Pro­jektion erforderlich. Er kann also mehrere Säle gleichzeitig betreuen und unter Umständen zwischendurch auch als Platzanweiser fungieren. Diese neuen Ver­hältnisse bringen unausweichlich eine generelle Verschlechterung der Projek­tionsqualität mit sich, es sei denn, eine permanente Kontrolle und Wartung der Maschinen finde statt. Doch leider ist in den letzten Jahren die professionelle Kompetenz und das handwerkliche Wissen in vielen Berufen im Bereich des Films gesunken, auch bei den Operateuren, die immer weniger Autonomie, Verantwortung und Kenntnisse haben und tendenziell zu reinen Knopf­drückern werden. Ein weniger kompetenter Operateur kann einem Kinobesit­zer auch nicht mehr mit Rat und Tat beistehen, wenn es um die Verbesserung der technischen Installationen geht.

Eine letzte Anmerkung zu den Kopien. Die Krise in der Filmindustrie -wir gehen hier von der Lage in Italien aus, aber anderswo wird es nicht viel an­ders sein - hat sich auch auf die Kopierwerke sehr negativ ausgewirkt: Immer häufiger werden Kopien mit kleinen und grossen Mängeln ausgeliefert – falsch entwickelt, unscharf, streifig ... Aber die davon verursachten Qualitätseinbus­sen kann man nicht den Kinos oder der Projektion zum Vorwurf machen.

Wir haben kurz zusammengefasst, was Kinozuschauerinnen alles erdulden müssen und weshalb. In einem Land wie Italien, in dem es spezialisierte Zeit­schriften gibt, welche unter anderem genaueste Analysen und Vergleiche der Qualität von Büchsenthunfisch anstellen und publizieren, könnte man doch versuchen, eine Art öffentlicher Erziehung hinsichtlich des Kinobildes und -tones zu lancieren, um dem Publikum die Möglichkeit zu geben, die Projek­tionsqualität einzuschätzen und zu merken, in welchem Mass eine Vorführung einem Film gerecht wird beziehungsweise ihn ruiniert. Italien hat eine grosse kinematographische Tradition. Wir finden, es wäre an der Zeit, Kontrollkom­missionen einzusetzen, welche einen angemessenen Standard der Projektions­qualität garantieren, wie das in den USA dank der SMPTE, in Grossbritannien dank der BKSTS und in Frankreich dank der Commission Superieure Technique geschieht.* Im gegenwärtigen Zeitpunkt der grossen Veränderungen in den Alltagspraktiken müssen sich die Berufsleute darüber im klaren sein, dass ihre beste Waffe im Kampf gegen den Heimkonsum per Video und TV die Qua­lität der Kinovorführung ist.

Übersetzung Mariann Lewinsky

*In der Schweiz ist die Procinema, die Dachorganisation von Verleihern und Kinnbetreihern, bestrebt, die Vorführqualität über die Ausbildung der Operateure zu sichern, hin technischer Dienst führt stichprobenmassig Kontrollen der Apparaturen durch. Die hohen Anforderungen seitens der Verleiher für das Erstaufführungsrecht von filmen gewährleisten ausserdem den guten Ausrüstungsstandard in den Schweizer Kinos, für die entsprechenden Auskünfte dankt die Redak­tion Ernest Steffen, Operateur im Zürcher Eilmpodium, und Procinema.

Gian Luca Farinelli
ist Chefkurator der Cineteca del Comune di Bologna und Direktor des Filmarchiv-Festivals «L'immagine ritrovata».
(Stand: 2018)
Nicola Mazzanti
ist Leiter des Bologneser Restaurierungslabors «L'immagine ritrovata», gemeinsam mit G. L. Farinelli Verfasser und Herausgeber verschie­dener Publikationen im Fachgebiet der Filmrestaurierung.
(Stand: 2018)
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