TILL BROCKMANN

NEGIERTE PRIVATHEIT — DIE FILME DER FÜNFTEN GENERATION CHINAS

ESSAY

Selten in der Filmgeschichte fällt die Definition einer Erneuerungsbewegung so leicht wie im Fall der Fünften Generation. Der Begriff suggeriert bereits eine klare Abgrenzung: Um ein Werk der Bewegung zuzurechnen, genügt es, dass es von einem der Regisseure stammt, die 1982 die Filmakademie in Beijing ab­schlössen - als erste Generation nach dem langen Unterbruch der Kulturrevo­lution.1 Nicht nur das gemeinsame Abschlussjahr, sondern auch verblüffende Parallelen im Lebensweg verbinden die Regisseure. Die Mehrzahl ist in den fünfziger Jahren geboren, stammt aus relativ privilegierten, intellektuellen Kreisen, wurde zu Beginn der Kulturrevolution Mitglied der Roten Garden, um sich Diskriminierung und Verfolgung zu entziehen, verbrachte danach eine Zeit der Umerziehung auf dem Lande sowie im Militär und gelangte schliess­lich Mitte der siebziger Jahre nach Beijing.2 Fs steht ausser Frage, dass die von Ideologiekämpfen zerrüttete (und gestohlene) Jugend, die doppelte Rolle als Opfer und Täter das spätere Filmschaffen entscheidend mitgeprägt haben.3 In­sofern wundert es auch nicht, dass Tony Rayns die Verarbeitung von Lebens­erfahrung zum definitorischen Schlüssel macht: «What makes the <Fifth Generation> different from earlier generations in thc communist Chinese cinema? The short answer is: the life-stories of its dircctors.»4 Trotzdem wäre eine um­fassendere Definition, die neben biographischen und thematischen Aspekten auch formalästhetische und narratologische Gesichtspunkte beizieht, der Er­forschung dieser Bewegung förderlich. Denn es ist sicher problematisch, die spritzigen urhanen Komödien eines Huang Jianxin mit den frühen Werken eines Chen Kaige oder Zhang Yimou auf eine Stufe zu stellen.

Wenn die Lebensgeschichte eine Katalysatorfunktion für die Werke der Fünften Generation besitzt, dann nicht nur auf einer unbewussten, psychologi­schen Ebene. Verarbeitung persönlicher Erfahrung, Autobiographismus, Um­setzung von Emotionen und ästhetischer Empfindsamkeit sind nicht blosses Nebenprodukt filmischen Wirkens, sondern eines seiner deklarierten Ziele. Interviews mit Chen Kaige, Zhang Yimou, Tian Zhuangzhuang und anderen belegen, wie sie ihre künstlerische Tätigkeit als Mittel des persönlichen Aus­drucks verstehen. In dieser Hinsicht kann die Fünfte Generation als eine klassische Autorenfilmbewegung eingestuft werden, in der die schöpferische Kraft des einzelnen, seine Psyche, seine intellektuelle und ästhetische Begabung in den Werken eine prägende und klar identifizierbare Handschrift hinterlässt. Wovon man sich abgrenzen und befreien will, ist dabei weniger das Genre-Kino mit seinen starren Konventionen und Normen, sondern vor allem der seit der Gründung der Volksrepublik von Mao und späteren Machthabern geäusserte Glaubenssatz, Film müsse (wie jede Kunst) ganz im Dienste der Volkserzie­hung stehen.5 Die Emanzipation von einer ideologisierten Filmpraxis, die Ab­kehr von der «Öffentlichkeitsarbeit» zugunsten eines «privaten» Gebrauchs des Mediums wurden dann auch zu einem Hauptkritikpunkt, den Exponenten der chinesischen Filmwirtschaft, Zensoren und Kritiker den Regisseuren der Fünften Generation entgegenbrachten: «Although the <ego> cannot be absent in any artist's creative work, if you place the <ego> above everything eise, then neither the times nor the people will respect you.»6

Doch genausowenig, wie die Charakterisierung der Filme sich im Verweis auf die Lebensgeschichte der Filmemacher erschöpfen sollte, wäre es falsch, die Regisseure als einzigen Parameter im filmischen Entstehungsprozess zu be­trachten. Auch in China haben Techniker, Schauspieler, Geldgeber- besonders seitdem westliche hinzukamen - und Genre-Konventionen ihren Einfluss: Es gibt keinen Grund, weshalb man für das chinesische Filmschaffen jene roman­tische Vision der ungehinderten Autorenschaft aufrechterhalten sollte, die in der Filmtheorie längst relativiert wurde.

In diesem Aufsatz soll es jedoch weniger um den in der Forschung bereits ausgiebig diskutierten Einfluss des Privatlebens der Regisseure auf ihre Filme gehen, sondern um die Frage, wann und wie das Thema Privatheit in den Filmen selbst behandelt wird. Privatheit ist Zustand und Anspruch, eine Vorstellung, ein Wunsch, ein heiliges Gut, an dem sich niemand vergreifen soll und das nur wir selbst veräussern dürfen. In den westlich geprägten Gesellschaften - aus­gehend von der angloamerikanischen Rechtstradition, in der die Diskussion Finde des letzten Jahrhunderts einsetzte und «privaey» in einer Kurzformel als «the right to be alone» umschrieben wird - ist die Privatsphäre durch eine Viel­zahl von Gesetzen geregelt. Diese garantieren in den eigenen vier Wänden, bei Arzt und Rechtsanwalt oder bei Gebrauch von Kommunikationseinrichtungen ein Höchstmass an Diskretion. Sie bewahren vor Einblicken in unsere Bezie­hungen, in Gesundheit, Intimleben, Vermögen, Konfession, politisches Credo und vieles mehr. Ins Gespräch kommt Privatheit dann, wenn sie angegriffen ist: So im heute gigantischen Fluss elektronischer Daten, durch staatliche Über­griffe oder durch die indiskreten Blicke aufsässiger Paparazzi, aber auch wenn sie willentlich veräussert wird, zum Beispiel in Fernsehshows, in denen sich die Lust zur Selbstentblössung und die Schaulust des Publikums ergänzen.

In der Volksrepublik China stellt sich die Problematik der Privatheit in einem ganz anderen Rahmen, zumindest wie sie in den Werken der Fünften Generation präsentiert wird.7 Natürlich ist es etwas heikel, die westliche Kon­zeption von Privatheit auf ein chinesisches Kulturprodukt anzuwenden. Ande­rerseits bliebe auch eine Analyse, die die chinesische Auffassung von Privatheit - die traditionell starke Trennung zwischen innen/privat («nei») und aussen/öffentlich («wai») - beizieht, nicht von einer westlichen Perspektive auf eben diese Begriffe verschont.8 Schwer ist es auch zu erörtern, ob und für welche Teile der chinesischen Gesellschaft die Behandlung des Themas seitens der Filmemacher bezeichnend ist.

Privatheit wird in den Werken der Fünften Generation nie als Fait accompli dargestellt, als bestehendes Gut, das es zu verteidigen gilt, sondern als eines, das noch erkämpft werden muss. Privatheit existiert nur in der Verneinung, als ne­gierter Anspruch, als unverwirklichter Traum. Mit Konfuzianismus und Kom­munismus versperren und versperrten in der chinesischen Gesellschaft zwei politisch-philosophische Gebäude der Etablierung einer Privatsphäre den Weg. Das mehrheitlich auf dem Konfuzianismus, aber auch auf anderen jahrtau­sendealten Sitten aufbauende Gescllschaftsdenken weist jedem Menschen eine fixe, durch eine patriarchalische Hierarchie bestimmte Position zu. Das Hoch­halten von Tradition und Riten garantiert dabei die Stabilität, während eine un­gehinderte Entfaltung des Individuums als potentielle Gefahr für die beste­hende Ordnung angesehen wird. Wie das zur vollkommenen Unterdrückung von persönlichen Freiheiten und deshalb auch zur Vernichtung jeglicher Privat­sphäre führen kann, thematisiert Raise the Red Lantern (Dahong Denlong Gaogaogua, 1991) von Zhang Yimou. Erzählt wird die Geschichte der jungen Songlian, die als vierte Frau in die Familie eines reichen Mannes eingegliedert wird. Das gesamte Gemeinschaftsleben in der Residenz wird von einem all­abendlichen Ritual bestimmt: Alle Frauen und die Dienerschaft müssen sich im zentralen Hof einfinden, bis der oberste Diener verkündet, mit wem der Herr die Nacht verbringen möchte. Im Hof der Auserwählten, die von den Dienern nun bevorzugt behandelt wird und am nächsten Tag den Menüplan bestimmen darf, werden danach rote Laternen aufgehängt. Einer der empfindlichsten und wichtigsten Aspekte von Privatheit, die Sexualität, wird also der Öffentlichkeit preisgegeben, sie wird zugleich Zentrum der Abläufe innerhalb der Gemein­schaft. Die Frauen sind nicht nur der sexuellen Ausbeutung durch ihren Mann ausgeliefert, sondern durch das peinliche Ritual auch einer dauernden Kon­trolle, dem Neid und den Intrigen ihrer Rivalinnen ausgesetzt. An ein Privat­leben ist nicht zu denken, und Versuche, sich eines zu schaffen, werden hart be­straft. Die heimliche Beziehung mit ihrem Arzt muss die dritte Frau sogar mit dem Tod hezahlen. Selbst das Verhalten der Dienerin Songlians, die in ihrem Kämmerchen heimlich rote Laternen anzündet, wird geahndet, weil man dieses private Vollziehen eines öffentlichen Rituals als grobe Übertretung etablierter Ordnung ansieht. Die Unbeweglichkeit des Systems wird auch eindrücklich auf formaler Ebene umgesetzt: Den ganzen Film durchziehen starre Kamera-Einstellungen, die mit Symmetrien und beengender Zentralperspektive die Figuren fesseln.

Auch in Zhangs Judou (1990) oder Li Shaohongs Ein blutroter Morgen (Auch: Blutiger Morgen / Xuese Qingchen, 1990) spielt Sexualität als Inbegriff des Privaten eine bedeutende Rolle. Ein blutroter Morgen verlegt Gabriel Garcia Marquez' Roman Chronik eines angekündigten Jodes in ein chinesi­sches Dorf: Ein Lehrer (im ideologischen Diskurs Chinas die typische «Intellektuellen»-Figur) wird auf offener Strasse und unter den Augen etlicher Schau­lustiger von zwei Männern ermordet, weil er angeblich deren Schwester die Jungfräulichkeit nahm. In elegant verschachtelten Rückblenden schildert die Regisseurin eine Dorfgemeinschaft, die weniger schützendes soziales Netz als vor allem Zwangsgesellschaft ist, die das Individuum kontrolliert und notfalls richtet, wenn das Verhalten nicht überlieferten Werten entspricht. Der vorder­gründig harmlose Tratsch am Dorfbrunnen oder in der Kneipe, in dem das (Privat-)Leben anderer verhandelt wird, entpuppt sich als ominöse Macht, der niemand entfliehen kann. Mitwisserschaft, Tatenlosigkeit, doch vor allem Angst, sich durch individuelles Eingreifen aus der Gemeinschaft zu lösen, lassen den Mördern freie Hand und verbinden das ganze Dorf in kollektiver Täterschaft.

Neben Familie und Dorf, wo zwischenmenschliche Beziehungen durch den Konfuzianismus und anderes traditionelles Gedankengut geregelt sind, ist der Staat eine weitere wichtige Variable für das Private. Deshalb ist der Kom­munismus hier als zweites ideologisch-philosophisches Gebäude, das in den Filmen der Fünften Generation als bedeutendes Hindernis für die Verwirk­lichung einer Privatsphäre dargestellt wird, zu betrachten. Die Ideologie der Kommunistischen Partei Chinas, teils in starkem Kontrast zum Konfuzianis­mus, teils in symbiotischer Verbindung mit ihm, bestimmt seit 1949 alle Berei­che der Gesellschaft. Auch hier sind Ansprüche und Bedürfnisse des einzelnen dem Wohlergehen des Kollektivs untergeordnet, dient das Recht vornehmlich dem Schutz der Gemeinschaft. Besonders während der Grossen Proletarischen Kulturrevolution, in der Ideologiekämpfe zur gegenseitigen Bespitzelung und bis zur Denunziation von Nachbarn, Freunden und sogar Familienangehörigen ausarteten, war jeder Anspruch auf Privatheit hinfällig.

Die wohl expliziteste Darstellung staatlicher Übergriffe auf das Privatleben liefert die Fünfte Generation mit Der blaue Drachen (Lan Fengzeng, 1993) von Tian Zhuangzhuang, einer kurzen Familienchronik, die 1953 mit dem Tod Sta­lins einsetzt und Mitte der sechziger Jahre mit der Kulturrevolution endet. Schon in der ersten Sequenz, der Heirat zweier junger Leute, wird die Ver­quickung von Privatleben und Politik deutlich. Die Hochzeitszeremonie be­ginnt mit der Ehrung des Vorsitzenden Mao, dessen Porträt sich bereits unheil­voll zwischen die Neuvermählten schiebt. Als die beiden aufgefordert werden, den Anwesenden eine kleine Darbietung zu geben, schauen sie sich erst schüchtern an und beginnen dann zaghaft, ein Revolutionslied zu singen. Am Abend erleben sie den vielleicht einzigen Moment glücklicher Intimität: Der Bräutigam versucht scherzhaft, der Braut den traditionellen roten Schleier überzuziehen (in Wirklichkeit ein beschriebenes Tuch, das hier auch politisch gedeutet werden kann), doch diese streift ihn ab und bekundet entschieden, sie wolle davon nichts wissen - ein Sinnbild doppelter Befreiung von Tradition und Kommunismus. Er nimmt sie auf die Schultern, und sie albern herum, bis das unverhoffte Hindringen einer Nachbarin die Ausgelassenheit abrupt beendet. Nach der Geburt eines Sohnes – aus dessen Perspektive der Film erzählt ist – liefert Der blaue Drachen eine endlose Kette politischer Ereignisse, die das Schicksal der Familie bestimmen und schliesslich jeden Versuch vereiteln, das Privatleben vor äusseren Hingriffen zu schützen. Politik und Ideologie sind omnipräsent, werden als parasitärer Fremdkörper dargestellt, der in keiner Weise etwas mit den Bedürfnissen, geschweige denn dem Interesse der Men­schen zu tun hat.9 Lärmige Umzüge ziehen durch die Strassen, immer wieder neue Kampagnen (Hundert-Blumen-Kampagne, Grosser Sprung nach vorn, Kulturrevolution) und neue Maximen werden propagiert, Spruchbänder, Pla­kate und Wandzeitungen beengen Lebensräume. Wichtige Ereignisse und Ent­scheidungen, die das Schicksal des gezeigten Mikrokosmos bestimmen, werden irgendwo im filmischen Off gefällt, in Abwesenheit der Betroffenen und der Zuschauer. Die Hauptfiguren versuchen verzweifelt, sich an die Forderungen von oben anzupassen, um sich und ihrer Familie etwas Freiraum und Frieden zu verschaffen, doch am Schluss stehen Verbannung, Gewalt, Leid und Tod, wird jedes Überbleibsel persönlichen und familiären Glücks zunichte gemacht. Der blaue Drachen stellt das Agieren der Personen vornehmlich als von Gefüh­len und Intuition geleitet, psychologisch und sexuell bedingt dar, während die Individuen von der Parteipolitik nur in einer historisch-materialistischen, ideo-logisch-rationalisierten Weise wahrgenommen werden.

Die bisherigen Beobachtungen zum Konflikt zwischen Privatheit und Nicht-Privatheit in den Filmen der Fünften Generation lassen sich anhand eini­ger Gegenüberstellungen zusammenfassen: Privat, intim versus öffentlich; in­nen versus aussen; psychologisch versus materialistisch; unpolitisch versus politisch; Emotion, Gefühle versus Ideologie, Rationalität; Natur versus Zivi­lisation, Gesellschaft; Individualismus versus Kollektivismus; Pragmatismus versus Ideologie, Tradition; Freiheit versus Kontrolle. Diese Begriffspaare sind natürlich nur als ein simplifiziertes polarisierendes System zu betrachten. Einer­seits sind diese Gegensätze in den hier behandelten Filmen ohne Zweifel auszu­machen, andererseits ist die Trennung nicht immer eindeutig festgelegt, weisen die Werke zudem weitere thematische Schwerpunkte auf. Vor allem wäre es falsch, die Seite der Privatheit von vornherein positiv und die der Öffentlichkeit negativ zu werten. Wie heikel diese Begriffe sind und wie unbestimmt ihre Be­wertung ausfallen kann, soll an einem letzten Filmbeispiel dargestellt werden, an einem Werk, das als Klassiker und eigentliches Erstlingswerk der Fünften Generation gilt: Gelbes Land (Auch: Gelbe Erde / liuang Tudi, 1985) von Ghen Kaige.10

Der Film basiert auf einem Drehbuch, das ursprünglich dem sozialistischen Realismus verpflichtet war. Der junge kommunistische Offizier Gu Qing der Achten Armee gelangt in ein abgelegenes Gebiet in der Provinz Shaanxi, um dort Volkslieder zu sammeln. Er trifft auf das Bauernmädchen Cuiqiao, bei des­sen Familie er unterkommt und das er vor einer bevorstehenden arrangierten Hochzeit retten will. In vielem nimmt der Film gängige Muster und Klischees kommunistischer Propagandafilme auf, welche die Begegnung der Bauern mit der sie von der Unterdrückung befreienden Volksarmee zelebrieren. Selbst auf der formalästhetischen Ebene, für deren Bruch mit der Vergangenheit Gelbes Land immer wieder gerühmt wird, sind noch Anklänge an kommunistische Filme zu finden - so etwa in manchen aus Untersicht gefilmten Grossaufnah­men des gesund und proper aussehenden Soldaten. Doch bei näherem 1 Iinsehen wird klar, wie das klassische Narrationsmuster an vielen Stellen durchbrochen, die Werteskala in Frage gestellt wird. Dem Soldaten misslingt es schliesslich, die Bauern von seinem revolutionären Gedankengut zu überzeugen, mehr noch, er beginnt sogar an seinem Auftrag zu zweifeln. (Seine Desorientierung, als er mit einer ihm neuen, unbekannten Realität konfrontiert wird, ist ein Zitat aus der Biographie des Regisseurs: Chen wurde ebenfalls als junger Mann aufs Land geschickt und begann dort, seinen naiven ideologischen Elan zu hinterfragen.) Cuiqiao wird letztlich nicht vor der Hochzeit bewahrt. Als sie doch noch ver­sucht, sich der kommunistischen Armee in Yanan anzuschliessen, findet sie -so lässt es der Film vermuten - im reissenden Strom des Gelben Flusses den Tod.

Wichtig ist hier, dass das sonst ideologisch verbrämte Zusammentreffen von Bauern und Kommunisten in Gelbes Land eben nicht auf einer historisch­materialistischen, sondern auf einer persönlichen und intimen Ebene stattfin­det. Das gesellschaftlich-öffentliche Ereignis wird zu einem privaten, die Pro­bleme, die der Soldat antrifft, sind nicht nur ideologischer, sondern vor allem existentieller Natur. Sein Handeln entleert sich zusehends politischer Inhalte, und zum zentralen Thema des Films wird die Suche nach Identität. Wie andere Werke der Fünften Generation nimmt Gelbes Land eine starke Psychologisie­rung der Figuren vor, die in den Filmen des sozialistischen Realismus so nicht anzutreffen ist. Trotzdem wäre es falsch, hier eine grundsätzliche Ideologie­feindlichkeit zu sehen: Der Film liefert in der Darstellung der rückständigen, noch von feudalistischen Traditionen geprägten Gesellschaft Anhaltspunkte dafür, dass die politischen Ideale des Soldaten durchaus berechtigt sind. Es ist nicht ausschliesslich die politische Überzeugungsarbeit, die Cuiqiao indirekt in den Tod reisst, sondern auch die gegenseitige sexuelle Anziehung der beiden jungen Menschen, die mehrfach angedeutet wird. Rationale, ideologische Bin­dungen zwischen den Figuren überlappen sich im Film mehrfach mit emotio­nalen und gefühlsbedingten, ohne jedoch eine wertende Hierarchie zu sugge­rieren. Die Behandlung von Natur kann ebenfalls sehr unterschiedlich gedeutet werden. Einerseits drückt die wunderbare Eandschaftsphotographie, die sich an der traditionellen Malerei orientiert11, Respekt und Bewunderung für die Natur aus. Andererseits wird in aus grösster Entfernung aufgenommenen Tota­len, in denen sich die Figuren wie Ameisen verlieren, auch eine bedrohliche Komponente der Natur unterstrichen, die die Menschen gefangenhält und den Launen der Witterung ausliefert. Einerseits spendet der Gelbe Fluss Cuiqiao und ihrer Familie Leben, andererseits reissen seine Fluten sie in den Tod.

Freiheit existiert für den Menschen in Gelbes Land weder in der «freien» Natur noch in der traditionsverbundenen ländlichen, noch in der neuen kom­munistischen Gesellschaft. Gefühle und Ideologie sind gleichermassen un­sicher, das private Leben ist genauso den Schlägen des Schicksals ausgeliefert wie das öffentliche. Es ist nicht zuletzt diese Ambiguität, die Gelbes Land und andere Werke der Fünften Generation auszeichnet - und sie Opfer der volks­republikanischen Zensur werden liess.

Die 1956 gegründete Filmakademie blieb von 1966 bis 1978 geschlossen.

Siehe dazu Tony Rayns u. a., King of the Children & the New Chinese Cinemu, London 1989, oder Stefan Krämer, Schattenbilder: Filmgeschichte Chinas und die Avantgarde der achtziger und neunziger Jahre, Dortmund 1996, die längere Biographien einiger Regis­seure liefern. Eindrücklich auch die Autobio­graphie Chen Kaigcs, Kinder des Drachen: Eine Jugend in der Kulturrevolution, übers, von Stefan Kramer, Leipzig 1994.

«Am wichtigsten ist sicherlich, dass ich damals (während der Kulturrevolution] viel über mich selbst erfahren habe. Wer sich selber kennt, der begreift auch mehr von der Welt - diese Einsicht winde bestimmend lui mein Leben.» Chen (wie Anm. 2), Vorwort.

Tons" Ravns, «Breakthroughs and Set­backs: The Origins of the New Chinese Ci-nema», in: Chris Berry (flg.), Perspectives on Chinese Cinema, London 1991, S. 104.

Die Filmakademie in Beijing diente vor allem dazu, eine Riege von ideologietreuen Filmschaffenden heranzubilden, die das Kon­zept des «Gong Nong Bing Dianying» (Film für Arbeiter, Bauern und Soldaten) umsetzen würde. Neben den technisch-praktischen Kur­sen waren auch solche in politischer und wirt­schaftlicher Doktrin Pflicht.

So der Regisseur und damalige (1987) Chef der Shanghai Film Corporation Wu Yi-gong: «We must become film artists who deeplv love the people» (Berrv (wie Anm. 4], S. 133). Für eine ausführliche Behandlung ideo­logischer Grabenkämpfe im chinesischen Film­wesen siehe Paul Clark, Chinese Cinema: Cul-ture and Poliücs Since 1049, Cambridge 1987. -Der Versuch, sich dem ideologischen Diskurs zu entziehen, ist den Regisseuren trotzdem nicht gelungen. Sowohl im chinesischen Kul­turkreis, in dem eine unpolitische Position von vornherein unmöglich ist, als auch im Westen, wo die Kritik sich mit Vorliebe auf die Suche nach verdeckter Systemkritik gemacht hat, wurden die Filmemacher wiederholt zu politi­schen Aussagen genötigt.

Anders als in manchen von der Sinologie geprägten Filmuntersuchungen interessiert hier nicht eine Analyse der chinesischen Ge­sellschaft als solche, sondern nur ihre filmische Aufarbeitung, üb diese wirklichkeitsgetreu oder repräsentativ sei, soll nicht erörtert werden.

Nicht zuletzt ist wohl das Verständnis von «nei» eines heutigen Einwohners Shanghais oder Hongkongs in vielem deckungsgleich mit unserer Konzeption von Privatheit.

Die Unfähigkeit des Staates und der domi­nierenden Kommunistischen Partei, den Be­dürfnissen des einzelnen nachzukommen, seine Privatsphäre zu bewahren, ist Gegenstand mehrerer Filme der Fünften Generation, wenn auch die Anklage meist weniger explizit for­muliert, die Ereignisse weit weniger dramatisch dargestellt werden als in Der blaue Drachen. Das Thema wird zum Beispiel inZhang Yimous Geschichte der Qiu Ju (Qiuju Da Guansi, 1992) aufgegriffen: Dort ist der Tritt in den Unterleib von Qiu Jus Ehemann seitens des Dorfvorstehers eine symbolträchtige Metapher staatlicher Übergriffe auf das Private.

Unter den zahlreichen Analysen siehe Esther C. M. Yau, «Yellow Earth: Western Analysis and a Non-Westcrn Text», in: Film Quarterly 4 1/2 (Winter 1987/88), S. 22-33; Kramer (wie Anm. 2), S. 402-411; Mary Ann Earquhar, «The Hidden Gender in Yellow Earth», in: Screen (Sommer 1992), S. 154-164.

Siehe Chris Berry / Mary Ann Farquhar, «Post-Socialst Strategies: An Analysis of «Yel­low Farth> and «Black Cannon Incident«», in: Linda C. Ehrlich / David Desser (Hgg.), Cinematic Landscapes. Observations on the Visual Arts and Cinema of China and Japan, Austin 1994, S. 81-116, einer der wenigen Aufsätze zur Fünften Generation, die vor allem formal und kunsthistorisch argumentieren

Ich danke Andreas Baiemi, Christine Noll Brinckmann und Andreas Grünberg für ihre Unter­stützung.

Till Brockmann
geb. 1966 in Hannover, Studium der Geschichte, Japanologie und Filmwissenschaft an der Universität Zürich.
(Stand: 2018)
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