RUEDI WIDMER

GRÜNINGERS FALL (RICHARD DINDO)

SELECTION CINEMA

Im Bezirksgericht St. Gallen fand 1940 der Prozess gegen den Polizeihauptmann Paul Grüninger statt. Die Taten, die man ihm vorwarf, hatten mehreren hundert deutschen und öster­reichischen Juden das Leben gerettet. Richard Dindo hat im seihen Gerichtsgebäude einige der Geretteten und andere Beteiligte der dama­ligen Geschehnisse versammelt. Sic stellen sich den Fragen des durch die Kamerasicht reprä­sentierten «Untersuchungsrichters» Dindo und erzählen von ihren Begegnungen mit Grüninger, der 1972 achtzigjährig verstarb und erst 1993 rehabilitiert wurde (dies hauptsächlich aufgrund der Recherchen von Stefan Keller, dessen Buch dem Film Titel und Grundlage lieferte).

Die Inszenierung der Erinnerung prägt den Film von Anfang an. Im Reden und Zuhören vollziehen die Menschen auf den alt­ehrwürdigen St. Galler Holzbänken eine Rückwendung und eine Annäherung an die einstigen Geschehnisse. Darin spiegeln sich nicht nur die existentiellen Erlebnisdimensionen der Flucht und die Person Grüninger, sondern auch der Kontext: die «Schweiz», deren «Verhalten» während des Zweiten Weltkrieges in den späten neunziger Jahren noch einmal zur Debatte steht.

Neben den ehemaligen Flüchtlingen tre­ten Polizisten und andere Zeitzeugen auf, in deren Statements klar wird, wie unterschied­lich, komplex und ott widersprüchlich die 1 Fal­tung gegenüber asylsuchenden Juden damals war. Ängstlichkeit und Obrigkeitsgläubigkeit scheinen durch, aber auch der (mehr oder weniger grosse) Wille, etwas für die jüdischen Flüchtlinge zu tun.

Dindo geht es darum, Menschlichkeit als Komplexität der Gefühle sichtbar zu machen, solange es sich um «kleine» Polizisten, Grenz­wächter und sonstige Bewohner des Grenz­gebietes handelt. Es gelingt ihm mit seinen ge­wohnten Mitteln der bewussten Auswahl und Verdichtung, eine Annäherung zwischen den Menschen dies- und jenseits der Grenze her­zustellen, eine Art Konsens der Menschlichkeil im Rückblick aus der Gegenwart. Demgegen­über stehen die Kräfte, die zur Missachtung und Verurteilung Grüningers geführt haben und die im Film nicht auftreten: Egoismus und Antisemitismus der verantwortlichen Behör­den, der offiziellen Schweiz.

Radikal dazwischen steht die Figur Grü­ninger. Der Polizeikommandant tat das Rich­tige, indem er gegen die Weisungen verstiess. In den Erzählungen der von ihm Geretteten er­scheint er als kurz, auftretende Lichtgestalt, bleibt aber letztlich seltsam ungreitbar als Per­son. So legitim und notwendig Dindos klar wertende Zweiteilung der Schweiz in «Volk» und «Behörden» sein mag, so viele (schweize­rische) Facetten zwischen Fremdenfreundlich­ keit und Fremdenangst dadurch sichtbar wer­den: Das konkrete Individuum Paul Grüninger bleibt auch in dieser filmischen Aufarbeitung grösstenteils im dunkeln.

Ruedi Widmer
geb. 1959, ist freier Journalist in den Bereichen Film und elek­tronische Medien, studierte audiovisuelle Medien und Philosophie in Paris und Zürich.
(Stand: 2018)
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