Mit der vorliegenden Nummer feiert CINEMA sein sechzigjähriges Bestehen. Ein Grund, sich zu berauschen an der Beständigkeit dieses Projektes, das seit jeher dem deutschsprachigen Schreiben über den Film eine Plattform bietet. Aus diesem festlichen Anlass haben wir uns daher für das Thema Rausch entschieden. Berauschend ist nicht nur das Alter des Jahrbuchs, eine Rausch auslösende Wirkung wird auch dem Medium Film zugeschrieben, über das seit 60 Jahren im CINEMA reflektiert wird. Schon zu seiner Geburtsstunde wurde der Film von seinen Kritikern mit einem Rauschmittel gleichgesetzt, mit einer Droge, die zwar Genuss in der Unterhaltung versprach, jedoch die Sinne vergiftete, die Wahrnehmung vernebelte und das Publikum als Filmtrunkene aus den dunklen Kinosälen entliess. – Aber, liebe Leserin, lieber Leser, Hand aufs Herz: Hoffen wir nicht mit jedem gekauften Kinobillett aufs Neue, dass uns der kinematografische Rausch erneut erfassen möge? Lockt uns nicht gerade das Versprechen von Ungeahntem, nie Gesehenem, gar Entrückendem, vor der Leinwand Platz zu nehmen? Zurück zum Rausch im gängigen Sinne: Natürlich finden auch Betrachtungen des Drogenmotivs und das kommune Berauschtsein seinen Platz in dieser Ausgabe. Sebastian Höglinger und Peter Schernhuber widmen sich dem Rausch im Jugendfilm und stöbern nach Rauschbildern im kollektiven Bildgedächtnis. Auf filmische Autoreisen under the influence nimmt uns Julian Lucks mit. Anita Gertisers Beitrag im CH-Fenster behandelt einen Schweizer Film, der um 1930 vor Alkoholmissbrauch warnt und für die Revision des Alkoholgesetzes warb. In der gleichen Rubrik nimmt Bettina Spoerri den vermeintlichen Generationenkonflikt zwischen «jungen» (Spiel-)Filmautoren und der «alten» Generation der heute 50-/60-jährigen Filmschaffenden zum Anlass für eine Bestandsaufnahme über die Schweizer Filmförderung. Dass auch die Seite der Filmproduktion nicht nur dem Rausch der Filmbilder, sondern auch dem Rausch des Alkohols verfallen sein kann, lesen Sie in Matthias Göritz’ literarischem Beitrag. Aber auch andere Facetten des schillernden Begriffs des Rausches werden in den Texten dieses Bandes aufgegriffen. Mit dem Fokus auf den Filmzuschauer ist das rauschhafte Miterleben ein Thema: In seiner Betrachtung der filmischen Konstruktion des Rausches und Rauschens, zeigt Rasmus Greiner die Bedingungen für eine audiovisuelle Zeitreise mittels 3D-Technik und Dolby Surround auf. Eine Brücke zwischen Drogen- und Filmerfahrung schlägt Hauke Lehmann, der untersucht, wie filmische «Trips» eine «Neuzusammensetzung der Welt und ihrer Ordnung» in Aussicht stellen. Dass ein solches Neudenken über die Welt auch mittels Verfremdung gelingen kann, zeigt Simon Meier in seinem Beitrag. Rauschhafte Desorientierung wiederum stellt sich im Dschungel und durch Dschungelbilder ein, so Tina Kaiser in ihrem Beitrag. Den urbanen Dschungel nutzt Künstler Ingo Giezendanner hingegen als Vorlage für seine Zeichnungen, die im Bildessay wiedergegeben sind. Seit jeher gab es auch Versuche, mit der Essenz des Films, rein durch flackerndes Licht, durch Farben und Formen, rauschartige Bewusstseinszustände herbeizuführen, wie Lars Nowak mit seinem Essay zur «Dreamachine» und Sonja Kirschall mit den «Trippy-Videos» der Youtube-Generation in den Fokus rücken – Versuche, die übrigens ganz ohne den Einsatz verbotener Mittel auskommen. Stephanie Werder wählt den damaligen Kampfbegriff des «Kinofusels» als Ausgangspunkt für ihren historischen Rückblick auf das Rauschmittel Film und zeigt, dass sich solche Anfeindungen schon damals für die Produktion als fruchtbar erwiesen. – Wie an den Beiträgen im vorliegenden Band hoffentlich ersichtlich wird, ist die Verbindung zwischen Rausch und Film bis heute unverbrüchlich und – glücklicherweise – unverändert produktiv. Möge der Kater nach dem Rausch also ausbleiben, und mögen die kinematografischen Feste noch lange andauern und den Auftakt für viele weitere Ausgaben von CINEMA bilden. Für die Redaktion MATTHIAS UHLMANN, MARIAN PETRAITIS

CINEMA #60
RAUSCH
EDITORIAL
ESSAY
MOMENTAUFNAHME
THE HUNGER GAMES, MOCKINGJAY (FRANCIS LAWRENCE, USA 2014/15)
S. CORINNA BILLE. DAS SCHREIBETIER (REGULA IMBODEN, EDUARD ERNE, CH 2014)
DER STIEFBRUDER MEINES STIEFBRUDERS (SANDRA ELLINGER, D 2007)
CH-FENSTER
FILMBRIEF
SELECTION CINEMA
AKTE GRÜNINGER — DIE GESCHICHTE EINES GRENZGÄNGERS (ALAIN GSPONER)
THE GREEN SERPENT — OF VODKA, MEN AND DISTILLED DREAMS (BENNY JABERG)