SASCHA LARA BLEULER

NEULAND (ANNA THOMMEN)

SELECTION CINEMA

«Ich interessiere mich für junge Migranten, weil sie den schlechtesten Ruf haben. Sie gel­ten als Kriminelle, die im Trainer herumlaufen und Leute anficken. Mir selbst geht es nicht anders», erläutert die Basler Filmemacherin Anna Thommen ihre Motivation für ihren Abschlussfilm Neuland im Masterstudiengang der Zürcher Hochschule der Künste. Bei den eigenen Ängsten und Vorurteilen ansetzen, den Gesichtslosen ein Gesicht verleihen, sich selber und der Schweiz den Spiegel vorsetzen: ein ambitiöses Vorhaben für die junge Regisseurin. Sie beobachtet und begleitet während zwei Jahren Jugendliche der Integrationsklasse Basel. Der Mikrokosmos der komplexen Realitäten der jungen Menschen aus aller Herren Länder kreist um ihren Schulalltag und den kauzigen Lehrer Herr Zingg in der Basler Kaserne. Zingg stürzt sich mit eindrücklichem Engagement in seine Aufgabe, sein erklärtes Ziel ist es, die Schüler ihre teils traumatische Vergangenheit vergessen zu lassen und auf den Arbeitsmarkt in der Schweiz vorzubereiten. Zinggs minutiöse Erklärungen zu den Toiletten und die unbeholfenen Witze am Begrüssungstag stossen bei den jungen Menschen vorerst auf kritisches Stirnrunzeln. Doch allmählich tauen die Schüler auf und beginnen, Herrn Zinggs Humor und Einfallsreichtum im Unterricht zu schätzen. Farbige Fäden werden auf eine Weltkarte an die Tafel gepinnt – sie visualisieren die steinigen Wege, welche die Jugendlichen von ihren Herkunftsländern bis in die Schweiz zurücklegen mussten. Der 19-jährige Habibi berichtet stockend von seiner schwierigen Flucht aus Afghanistan, die ihn mit dem Schlauchboot übers Meer und während mehrerer Wochen zu Fuss über die Berge führte. Neben der Schule muss er viel arbeiten, um seine Schulden für die teure Reise abzuzahlen. Wenn er es nicht schafft, würden die Gläubiger als Ersatzzahlung seiner Familie das Land wegnehmen. Herr Zingg versucht die fremden Wertvorstellungen zu verstehen und akzeptiert Ehsanullah nach einer langen arbeitsbedingten Absenz wieder in seiner Klasse.

Kamerafrau Gabriela Betschart gelingt es, oftmals sehr emotionale Momente unaufgeregt einzufangen, ohne sie zu dramatisieren. Allzu aufdringlich wirkt die teilweise etwas gar süssliche geratene Hintergrundmusik; was nicht nötig gewesen wäre, denn die charis­matischen Protagonisten und ihr Lehrer tragen diese intimen Momente voll und ganz. Thommen hat vor ihrer Filmausbildung selber als Primarlehrerin gearbeitet. Man spürt ihre Erfahrung im Schulalltag und ihren liebevoll ironischen Blick insbesondere in Momenten von Situationskomik zwischen Schülern und Lehrer oder während langweiligen Lehrerkonferenzen. Wie bereits mit ihrem preisgekrönten Kurzfilm Second Me gelingt Thommen auch mit Neuland ein einfühlsa­mes Porträt unterschiedlicher Jugendlichen, die sich wacker dem Sturm des Lebens in einem fremden Land stellen.

Sascha Lara Bleuler
*1977, Schauspielausbildung am Lee Strasberg Theatre & Film Institute in New York. Studium Anglistik, Filmwissenschaft und Fran­zösi­sche Literatur an der Universität Zü­rich. Lehrtätigkeit in Englisch, Filmtheorie und Schauspiel. Freie Journalistin für Filmzeitschriften. Kuratorin von Filmreihen. Programmation der Internationalen Kurzfilmtage Winterthur und des Dokumentarfilmfestivals Visions du Réel. Schauspielerin in Film- und Theaterproduktionen. Lebt in Zürich und Tel Aviv.
(Stand: 2017)
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