SIMON MEIER

CURE — THE LIFE OF ANOTHER (ANDREA ŠTAKA)

SELECTION CINEMA

Dubrovnik, eine Küstenstadt im Süden Kroatiens. Der Unabhängigkeitskrieg ist soeben zu einem Ende gekommen. Linda, in der Schweiz zur Welt gekommen, kehrt mit ihrem Vater aus dem Exil in die alte und zugleich neue Heimat zurück. Das 14-jährige Mädchen freundet sich mit der gleichaltrigen Eta an, und sie werden beste Freundinnen. Ihr Lieblingsort ist ein Kiefernwald am Rand der Stadt. Dort tauschen sie sich über ihre ersten sexuellen Erfahrungen aus und albern herum. Am Rand des Waldes, bei einem Kliff, ereignet sich ein folgenschwerer Zwischenfall. Eta macht sich über Linda lustig und beschimpft sie als schwächlich. Es entsteht ein Gerangel: Eta stolpert, und nachdem Linda ihre Freundin zuerst festgehalten hat, stösst sie diese über die Klippe. Linda kehrt allein in die Stadt zurück. Dort scheint sich jedoch niemand für den genauen Hergang des Vorfalls sonderlich zu interessieren – weder die Angehörigen der Verstorbenen noch die Polizei. Eta sei ertrunken, wird behauptet. Schon bald nimmt Linda den Platz in der Familie ihrer verstorbenen Freundin ein. Es entwickelt sich eine Verwischung der Identitäten, indem Linda tatsächlich Eta zu sein und ihr Leben weiterzuführen scheint.

Dramaturgisch arbeitet der Film mit einer Vielzahl von Andeutungen und Mehrdeutigkeiten: Kurz vor dem Todesfall tauschen die Mädchen ihre Kleider und einen Ohrring, Etas Grossmutter scheint sie wirklich für ihre eigene Enkeltochter zu halten, spannt sie in die Aufgaben des Haushaltes ein und nimmt sie sogar ins Familienalbum auf. Immer wieder taucht Eta in Lindas Vorstellung auf und neckt sie, wie es sei, nun ihr statt ihr eigenes Leben zu führen. Linda nähert sich Ivo an, der Eta begehrte, und lässt sich auf seine Avancen ein. Sie wird aufmüpfiger und mutiger, wie es ihre Freundin war. Das Vortäuschen einer Normalität, die eigentlich keine ist, kann auch als die kollektive Verdrängung der Gräuel des Krieges, die kein Verharren im Vergangenen zulassen, gesehen werden.

Wie schon in Andrea Štakas Das Fräulein, geht es in Cure – The Life of Another um gegensätzliche Figuren, die sich in ihrer Verschieden­heit gegenseitig bewundern und gleichzeitig verachten. Die lebenshungrige Eta möchte von Dubrovnik weg, Linda hingegen versucht sich am neuen Ort zurechtzufinden und ist eigentlich eine scheue Aussenseiterin. Vieles bleibt jedoch vage, da der Film stark mit Auslassungen und Andeutungen arbeitet, die nicht aufgelöst werden und vom Zuschauer dadurch viel Interpretationsarbeit abverlangen. Eine etwas dezidiertere Zuspitzung des Szenarios hätte dem Film nicht geschadet. Am Ende beugt sich Linda dem psychologischen Druck, den der Zwischenfall auf sie ausübt, und kehrt in die Schweiz zurück. Hier kann sie ihre Identität nochmals neu erfinden, bleibt aber trotzdem in ihrer eigenen Vergangenheit gefangen.

Simon Meier
*1986 in Zürich. Studium der Ethnologie, Filmwissenschaft und Kunstgeschichte an der Universität Zürich. Arbeitet als Redaktor am Newsdesk des Tages-Anzeigers. Von 2011 bis 2021 war er Mitglied der CINEMA Redaktion. simonangelomeier.ch
(Stand: 2024)
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