SASCHA LARA BLEULER

KARMA SHADUB (RAMÒN GIGER, JAN GASSMANN)

SELECTION CINEMA

Das erste Bild steht symbolisch für das Verhältnis zwischen Vater und Sohn. Der Filmemacher Ramòn Giger rahmt den Rücken von Paul Giger, fast schüchtern und aus sicherer Distanz. Der Bogen des weltbekannten Geigenvirtuosen fliegt über die Saiten, wie von göttlicher Hand getrieben. Diese narrative Klammer wird sich am Ende des Filmes schliessen, doch bis dahin ist ein steiniger Weg voller familiärer Abgründe, Geheimnisse und Schmerz zu überwinden. Die Annäherung an den abwesenden Vater ist das erklärte Ziel des Regisseurs, und die konfliktreiche, traumatisierte Dynamik wird gleich zu Beginn offengelegt. Giger, der bereits mit seinem Erstling Eine ruhige Jacke viel Gespür für gleichzeitige Nähe und Distanz zu seinem Protagonisten bewies, setzt in Karma Shadub bewusst Stilmittel der Psychoanalyse ein, um die schwierige Beziehung zu seinem Vater zu ergründen. Erfolg und Scheitern dieses Prozesses sind zentrale Dramaturgie-Bausteine des Films.

Ramòn Giger erblickte in einem abgelegenen Appenzeller Bauernhaus das Licht der Welt. Vater Paul komponierte für den Neugeborenen ein Lied, eine sinnliche Geigenmelodie, die als musikalisches Leitmotiv durch den Film trägt. Paul nennt die Komposition wie seinen Sohn Karma Shadub, tibetisch für «tanzender Stern». Der Stern will später lieber «Simon» heissen und grenzt sich von seinen esoterischen Eltern ab. Als er 15-jährig von einem Aufenthalt in Amerika zurückkommt, ist der Vater ausgezogen und will die Scheidung.

Der Film ist der Versuch, die verhärteten Schichten, welche die schmerzliche Trennung der Eltern hinterliess, abzutragen und dem entschwundenen Vater näherzukommen. Ramòn wählt insbesondere die direkte Konfrontation im Gespräch mit Paul, der anfänglich Mühe bekundet, seinem Sohn zu vertrauen. Er habe Angst, ausgenutzt zu werden und dass ein Bild von ihm entstehen könnte, das ihm nicht entspricht. Paul formuliert so treffend jenes Risiko, dem sich jedes dokumentarische Subjekt bewusst oder unbewusst stellt. Es lässt sich rahmen, zerschneiden, fiktionalisieren, um es letztendlich der künstlerischen Vision des Filmemachers dienstbar zu machen. Die emotionale Fallhöhe ist in der Überschneidung von Regisseur/Sohn umso grösser und der Film lotet dieses Spannungsfeld gekonnt aus. Die Dokumentation der Arbeit des Vaters – einer aufwendigen Inszenierung mit der Tanzkompanie St. Gallen – dient hier nur als Vorwand für die filmische Familienaufstellung. Die absolute Erlösung bleibt aus, doch der Filmemacher entlässt seinen Vater mit einem versöhnlichen Blick und trifft darin das universelle Begehren, familiären Schmerz nicht zu löschen, doch wenigstens loszulassen. Oder – filmisch gesprochen – die Eltern und ihre Geheimnisse der Unschärfe zu überlassen.

Sascha Lara Bleuler
*1977, Schauspielausbildung am Lee Strasberg Theatre & Film Institute in New York. Studium Anglistik, Filmwissenschaft und Fran­zösi­sche Literatur an der Universität Zü­rich. Lehrtätigkeit in Englisch, Filmtheorie und Schauspiel. Freie Journalistin für Filmzeitschriften. Kuratorin von Filmreihen. Programmation der Internationalen Kurzfilmtage Winterthur und des Dokumentarfilmfestivals Visions du Réel. Schauspielerin in Film- und Theaterproduktionen. Lebt in Zürich und Tel Aviv.
(Stand: 2017)
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