JONAS ULRICH

EL TIEMPO NUBLADO (ARAMI ULLÓN)

SELECTION CINEMA

Arami Ullón lebt seit zehn Jahren in der Schweiz, arbeitet als Regisseurin und lebt glücklich mit ihrem Freund Patrick zusammen. Da erhält sie Nachricht aus Paraguay: Ihrer Mutter geht es sehr schlecht und die Pflegerin Julia kommt mit der Situation nicht mehr zurecht. Widerwillig reist Arami zurück in ihre Heimat, um nach ihrer Mutter zu sehen. Dem Zuschauer offenbart sich eine tragische Familiengeschichte: Vom Vater verlassen, musste sich die Tochter schon als Kind um ihre an Epilepsie leidende Mutter kümmern, bis sie sich als Erwachsene mit der Situation nicht mehr abfinden wollte und in die Schweiz auswanderte. Soll sie jetzt erneut alles Erreichte für ihre Mutter aufgeben?

Bei El tiempo nublado handelt es sich zweifellos um einen der persönlichsten Dokumentarfilme, die in letzter Zeit hier zu sehen waren. Regisseurin Ullón rückt ihre eigene Familiengeschichte ins Scheinwerferlicht und stellt sich selbst gnadenlos bloss. Sie befahl ihrem Kameramann buchstäblich, auch in emotional schwierigen Momenten nicht aufhören zu filmen, wodurch der Film eine eindrückliche Nähe und Unmittelbarkeit erhält. Wenn wir etwa zusehen, wie Arami verzweifelt auf die Wände ihres Appartements einschlägt oder in der Toilette weinend zusammenbricht, vergisst man leicht, dass sie nicht nur Hauptdarstellerin, sondern auch Filmemacherin ist.

Die Kameraarbeit von Ramòn Giger kommt überaus filmisch daher und schafft eine sehr dichte Atmosphäre: Ohne aufdringlich zu wirken, findet die Kamera immer wieder effektvolle Perspektiven und fängt sensationelle Lichtstimmungen ein. Zusammen mit der Musik, die entfernt an den Babel-Score von Gustavo Santaolalla erinnert, fühlt sich El tiempo nublado überhaupt wie ein Spielfilm an und präsentiert dem Zuschauer eine flüssige, ungebrochene Handlung – nur eben mit dem Wissen im Hinterkopf, dass alles echt, nichts gestellt ist.

Einerseits ist der Film stark in seiner Umgebung in Paraguay verwurzelt – kritisiert er etwa das dortige Gesundheitssystem – andererseits spricht Ullón ein universelles Thema an: Was tun, wenn sich unsere Eltern nicht mehr um sich selbst kümmern können? Wo zieht man die Grenze zwischen dem eigenen Wohl und der Verantwortung denen gegenüber, die uns grossgezogen haben? Diese Fragen behandelt Ullón auf nuancierte und emotionale Weise, wobei sie das Medium Film sozusagen als Therapie zwischen ihr und ihrer Mutter fungieren lässt. Und ganz nebenbei bestätigt sie mit El tiempo nublado eine alte Weisheit: Autobiographische Stoffe geben oft das beste Debütwerk ab.

Jonas Ulrich
*1990, seit 2009 Studium der Geschichte, Filmwissenschaft und Rechtswissenschaft an der Universität Zürich. Daneben freischaffender Filmkritiker und tätig in der Produktion von Musikvideos und Kurzfilmen. www.atopic.ch
(Stand: 2016)
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