SASCHA LARA BLEULER

THE GREEN SERPENT — OF VODKA, MEN AND DISTILLED DREAMS (BENNY JABERG)

SELECTION CINEMA

Alkohol ist unbestritten die gefährlichste Gesellschaftsdroge. Die Sucht nach dem Rausch, nach der Möglichkeit des Loslassens durch den flüssigen Gehilfen gehört seit jeher zum sozialen Gefüge, ja zum Menschsein. Die seelischen Abgründe, die sich auftun, wenn man sich immer mehr dem Alkoholkonsum verschreibt, sind allgemein bekannt und an Dokumentarfilmen, die oftmals den moralischen Zeigefinger heben, mangelt es nicht. Der junge Schweizer Filmemacher Benny Jaberg will mit seinem Kurzfilm The Green Serpent das Phänomen Alkohol auf unkonventionelle Weise durchleuchten. Er seziert filmisch die Wirkung des Wodkas, ergründet den schmalen Grad zwischen euphorischem Schwebezustand und dem tiefschwarzen Sumpf der Depression danach. Bewusst unvoreingenommen folgt Jaberg der «grünen Schlange» hinein in die alkoholdurchtränkten Gefilde von Russland und sucht nach der künstlerischen Inspiration, die das Getränk freisetzt.

Auf seiner Reise trifft er scheinbar zufällig auf allerlei Gestalten, die über die Wirkung des Rauschgetränks philosophieren. Der Dichter Mstislav Biserov schaut sowjetische Propagandafilme und wartet vor seinem Bildschirm auf das Einkicken der Wodka’schen Muse – nur durch deren halluzinogene Kraft erreiche er poetische Höhenflüge. Nüchternheit degradiere ihn zu einem nervlichen Wrack, sei seiner Kreativität ein Fluch. Auch dem Schauspieler Aleksandr Baschirov dient Alkohol als Gefühlskatalysator. Seine wässrigen Augen funkeln schelmisch und er gibt zu, dass nur das grüne Gift seine existentiellen Angstzustände ertränken könne. Für die Russen funktioniere Wodka als Ersatz für die rastlose Suche nach Identität und setze teleportische Kräfte frei. Der Physiker Nikolai Budnev, der am vereisten Baikalsee Forschungen zu Ausserirdischen betreibt, destilliert mittels Rauschzustand gar das Wesen der «dunklen Materie, des Göttlichen» heraus.

Manch solch verschrobene Weisheiten geben die Protagonisten nicht ohne Augenzwinkern von sich und Jaberg spinnt ihre transzendentalen Gedankengänge mit assoziativ montierten Bildern der verschneiten Einöde weiter. Sein Kurzfilm entstand im Rahmen des Projekts «Russischer Winter», das sieben Filmteams Gelegenheit bot, sich künstlerisch mit russischen Stereotypen auseinanderzusetzen. So begab sich Jaberg auf eine fünfwöchige filmische Reise mit der Transsibirischen Bahn; das oftmals aus dem Zugfenster heraus gedrehte Material schnitt er noch während der Fahrt. Zeitlupe und das Spiel mit Tiefenschärfe verleihen den hauptsächlich nachts gedrehten Aufnahmen einen surrealen Charakter – tanzende Blasen im grün ausgeleuchteten Wodkaglas werden zum Sternenhimmel. Und die psychedelische Musik von Marcel Vaid vertont in perfekter Symbiose die poetischen Details von Jabergs Bilderwelten.

Sascha Lara Bleuler
*1977, Schauspielausbildung am Lee Strasberg Theatre & Film Institute in New York. Studium Anglistik, Filmwissenschaft und Fran­zösi­sche Literatur an der Universität Zü­rich. Lehrtätigkeit in Englisch, Filmtheorie und Schauspiel. Freie Journalistin für Filmzeitschriften. Kuratorin von Filmreihen. Programmation der Internationalen Kurzfilmtage Winterthur und des Dokumentarfilmfestivals Visions du Réel. Schauspielerin in Film- und Theaterproduktionen. Lebt in Zürich und Tel Aviv.
(Stand: 2017)
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