Wir feiern heuer zwei Jubiläen: Die 60. Ausgabe des CINEMA-Jahrbuchs und den 50. Geburtstag der Solothurner Filmtage, wo das CINEMA auch dieses Jahr wieder seine Vernissage feiert. Zwei wichtige Foren, die besonderes Augenmerk auf den Schweizer Film richten, blicken damit auf ein halbes Jahrhundert Auseinandersetzung mit der inländischen Filmproduktion: die Filmtage mit der Präsentation von neuen Schweizer Filmen, insbesondere in den Anfängen immer wieder heftigen Grundsatzdiskussionen und bis heute der wichtigste Anlass für Branche und Publikum rund um den Schweizer Film, das CINEMA seinerseits als publizistisches Organ beobachtend, kritisch analysierend, in geschichtliche und ästhetische Kontexte stellend und reflektierend.
Dieses doppelte Jubiläum und insbesondere das spezifische Alter der Jubilare soll hier zum Anlass genommen werden, um kurz innezuhalten und eine Zwischenbilanz zu ziehen. In einem halben Jahrhundert haben sich die Konditionen des Schweizer Filmschaffens stark verändert, grosse Umbrüche haben stattgefunden. Die künstlerischen und produktionellen Voraussetzungen der Generation der heute 50-/60-jährigen Filmautor/-innen waren, als diese mit ersten Werken an die Öffentlichkeit traten, bezüglich vieler Aspekte ganz andere als heute. Den Wandel des kulturellen Felds der Schweizer Filmproduktion, die Kette von Faktoren, welche die Entstehung eines Films beeinflussen, möchte ich im Folgenden anhand einiger zentraler Momente schlaglichtartig beleuchten. Dabei fokussiere ich auf die Situation der Filmautor/-innen, der Ideen-Entwickler/-innen und Urheber/-innen, wie sie es in der Schweiz heute noch immer fast ausschliesslich sind. Wie hat sich ihre Situation verändert, und welches sind die Herausforderungen, vor denen sie – und Filmförderer – heute stehen?
In den letzten fünf Jahrzehnten hat sich sukzessive ein System zur Förderung von Filmen etabliert; das Cinéma Copain1 im Schweizer Film der 1960er Jahre wich solideren Finanzierungsmöglichkeiten, eine kleine Industrie mit organisierten Branchenvertretern ist entstanden. Doch inwiefern bedeutet der Auf- und Ausbau des Fördersystems auch eine bessere Grundlage für ein fruchtbares Biotop, das die qualitativ überzeugendsten Projekte ermöglicht? Wo sind heute ermutigende Entwicklungen zu beobachten, wer macht in der Schweiz künstlerisch überzeugende Filme, die neue Terrains erkunden und auch ins Ausland ausstrahlen? Der Vorstoss einer Gruppe von jungen Filmemachern, die mehr Geld für Nachwuchsfilme fordern, evoziert diesbezüglich einen Generationenkonflikt: Sie geben dem Gefühl Ausdruck, dass sie zu wenig oft Geld für ihre Projekte erhalten, dass für sie neben den ‹Alten›, den ‹Etablierten› nicht genug Platz ist. Zeigen sich hier tatsächlich Defizite des Fördersystems? Wie sind diese Ansprüche in einem weiteren Entwicklungskontext einzuschätzen?
Jahrgang 1950–1961: Die Generation des zweiten Aufbruchs
Neue kulturelle und filmästhetische Impulse gingen in der Vergangenheit zweimal von einer jeweils jüngeren Generation aus: mit den Filmkünstler/-innen der 1960er und sodann der 1980er Jahre. Neue narrative Formen wurden erprobt, subjektive Erzählweisen, die Filme wurden angriffiger, politischer, radikaler. Eine junge Avantgarde löste die Heimatfilmblüte der 1950er Jahre ab, und 1980 wiederum artikulierte mit u. a. Züri brännt die junge Generation neue Visionen und ihr Aufbegehren gegen das Establishment. Die heute 50- bzw. 60-Jährigen sind in der allgemeinen politischen und kulturellen Aufbruchsstimmung der 1960er Jahre aufgewachsen, sie erlebten jene politischen Diskussionen um den Film mit, ihre Schweizer Filmväter waren die Exponenten des Jungen Autorenfilms. In den späten 1970er bzw. 1980er Jahren traten viele von ihnen erstmals mit eigenen filmischen Werken an die Öffentlichkeit. Zu ihnen gehören u. a. (eine Auswahl wichtiger Namen): Jean-François Amiguet (1950), Rolando Colla (1957), Christian Frei (1959), Sabine Gisiger (1959), Marcel Gisler (1960), Frédéric Gonseth (1950), Gitta Gsell (1953), Markus Imboden (1955), Stefan Haupt (1961), Fernand Melgar (1961), Samir (1955), Christoph Schaub (1958), Anka Schmid (1961), Werner «Swiss» Schweizer (1955), Daniel Schweizer (1959), Stefan Schwietert (1961), Matthias von Gunten (1953). Erwähnt werden soll hier auch der kürzlich verstorbene Künstler Peter Liechti (1951–2013). Die genannten Regisseure realisieren alle seit rund vier Jahrzehnten Filme und treten mit Selbstbewusstsein und vielen Erfahrungen im Rucksack, mit Anforderungen an sich selbst und die anderen auf. Nicht wenige unter ihnen sind Autodidakten, einige arbeiteten als Fotografen, bevor sie zum Film kamen, andere studierten an Filmschulen im Ausland – denn in der Schweiz gab es noch keine entsprechenden Ausbildungsangebote.2 Viele von ihnen haben sich aktiv in den Diskussionen um Filmfördersysteme in diesem Land engagiert, sie trugen Entscheidungen in wichtigen Gremien mit, wehrten sich, wenn die Interessen der Regisseure im Verteilkampf beschnitten werden sollten. Fast alle unter ihnen waren insbesondere bei Dokumentarfilmen ihre eigenen Produzenten bzw. gründeten ihre Produktionsfirmen; sie stehen so gesehen mehr für eine Selfmademan-Generation – Frauen sind noch untervertreten –, die Spiegel einer vorerst noch nicht durchregulierten Produktionstopografie waren.3
Verbesserungen – Verschlechterungen
Mit den 1980er Jahren, als sich das Schaffen dieser neuen Filmer-Generation kulturelle Resonanz verschaffte, beeinflusste dies auch die Förderlandschaft. Die Situation für Filmautor/-innen in der Schweiz verbesserte sich: Die Förderinstrumente des Bundes (wie auch von Kulturstiftungen und des öffentlich-rechtlichen Fernsehens) wurden ausgebaut, die Beiträge erhöht, die Förderkategorien veränderten Bedürfnissen angepasst. Mit Nachwuchs- oder Drehbuch-Förderung u. a. 1996 erfolgte die Pilotphase einer erfolgsabhängigen (automatischen) Succès-Cinéma-Förderung, die alsbald als fester Bestandteil der Filmförderung des Bundesamts für Kultur die selektive (Qualitäts-)Förderung ergänzte: ein wegen seiner reinen quantitativen Auswertung von Eintrittszahlen (bzw. heute auch Festivaleinladungen/-erfolgen) zwar umstrittenes Instrument, weil die Gefahr besteht, dass damit vor allem Kommerzialität belohnt und unterstützt wird. Aber Succès Cinéma bedeutete auch eine Hilfe für Filmautoren/-innen: für mehr Kontinuität in ihrer Arbeit, in der unsicheren Phase bis zu einem nächsten Projekt. 1996 unterschrieben SRG und wichtige Branchenverbände den Pacte de l’audiovisuel,4 und 2004 wurde die Zürcher Filmstiftung gegründet, die heute für die Mehrheit der Filmprojekte auf dem Weg zu ihrer Realisierbarkeit eine nicht mehr wegzudenkende Instanz ist.
Aber die Sicherheit für den einzelnen Filmautor ist – anders als etwa für Produzenten, Verleiher – durch alle diese Massnahmen nicht wirklich entscheidend grösser geworden, wie zu zeigen sein wird. Und was seit einigen Jahren die ganze Branche trifft, wirkt sich gerade auch auf die schwächsten Glieder der Kette, die Filmautoren, aus: die Folgen der Digitalisierung und der Internet-Raubkopien, das Sterben kleinerer Kinos, die sich für Schweizer Filme einsetzen,5 die immer heftiger umkämpften Abspielmöglichkeiten, schliesslich auch die Ausdünnung der Filmkritik6. Eine zusätzliche Verunsicherung brachten die Grabenkämpfe rund um den BAK-Filmchef Nicolas Bideau (2005– 2010 im Amt), der sich als Intendant zu inszenieren begann.7
Prekäre Verhältnisse für Filmautoren
Grundsätzlich ist die Existenz als Filmautor in der Schweiz – wenn auch im globalen Vergleich hier äusserst gute Konditionen herrschen – heute weiterhin eine sehr prekäre, und zwar nicht nur aufgrund der oben genannten Faktoren. Die Realität für einen Filmautor sieht so aus: Ist das eine Projekt endlich ausfinanziert und kann gearbeitet werden, heisst dies trotzdem, dass der Regie-Lohn und die prozentualen Auswertungsgelder nicht ausreichen. Meist sind noch zusätzlich notwendige Wochen für die Arbeit am Schnitt (welcher im Budget oft nicht genug Zeit zugerechnet werden kann) oder die Arbeitszeit, wenn der Film – und Regisseur – an Festivals eingeladen wird, kaum oder nicht angemessen entlohnt. Und währenddessen sollten bereits mindestens ein nächstes Projekt entworfen, Gesuche formuliert, Eingaben erfolgt sein – ohne jegliche Garantie für eine Zusage. Denn allein schon die rechnerische Wahrscheinlichkeit, dass ein Gesuch bewilligt wird, sinkt seit einigen Jahren: weil es immer mehr Gesuche gibt.
Das Nadelöhr der finanziellen Förderung zeigt seismografisch die neuesten Tendenzen auf. Das Bundesamt für Kultur, mit der Zürcher Filmstiftung und dem Fernsehen SRF eine Art Primus inter Pares, was die Signalwirkung einer Zusage für die finanzielle Unterstützung eines Filmprojekts anbelangt, verzeichnet eine massive Zunahme der Gesuchzahlen. Der Konkurrenzkampf ist allein in den letzten vier, fünf Jahren merklich härter geworden. Die Quote der unterstützten Projekte nimmt seit 2011 ab, von einstmals rund 20 % sinkt die Prozentzahl ab. Neue Förderinstrumente8 haben den Engpass zusätzlich verstärkt.9 Die Gelder verteilen sich also auf mehr Bereiche und sind im Einzelfall nicht höher geworden, während aber die (Mindest-)Löhne für Mitarbeiter, der Kostenaufwand für Technik etc., die Lebenshaltungskosten anstiegen. Sind Produzenten an Projekten mitbeteiligt (was bei Dokumentarfilmen nicht die Regel ist, aber von Kommissionen heute öfter gefordert wird), bedeutet dies eine Steigerung der Gesamtkosten – aber nicht eine Erhöhung des Regie-Lohns (manchmal eher das Gegenteil). Deshalb sind viele der oben genannten Regisseure, die nicht nur Filmgeschichte geschrieben haben, sondern auch immer wieder neue Ideen entwickeln, mit der Tatsache konfrontiert, dass sie keine Förderung (mehr) erhalten. Generelle, automatische Bevorzugungen gibt es nicht; auch ein Rolf Lyssy etwa muss sich mit allen anderen in die Reihe stellen und Gesuchablehnungen erleben, und das nicht nur einmal. Nun könnte man als Argument ins Feld führen, dass bekannte Regisseure dennoch eine bessere Startposition haben, weil sie sich bereits mit mehreren Werken bewiesen haben. Doch daran beginnt man spätestens dann zu zweifeln, wenn ein Entscheidungsgremium Film-DVDs aus dem bisherigen Schaffen solcher Gesuchstellenden anfordert; so sassen in einer Kommission Mitglieder, die offensichtlich Klassiker wie z. B. Höhenfeuer nicht kannten. Die Irritationen über die Zusammensetzung von Entscheidungsgremien,10 die Inkompetenz oder Voreingenommenheit einzelner Jurymitglieder (welche sich in den Befragungen zeigt, zu denen unschlüssige Kommissionen Filmautoren einladen), die Unkenntnis ausländischer Kommissionsmitglieder bezüglich der Schweizer (Film-)Geschichte und kinematografischen Landschaft hat – nicht nur unter Filmautoren – in den letzten Jahren zugenommen. Und es zeigt sich auch eine problematische, weil anfällige Seite der immer stärkeren Verquickung von Kino- und Fernsehproduktion im Schweizer Film, eine Kehrseite des Pacte de l’audiovisuel: Von vielen Branchenangehörigen wird die Machtposition einiger weniger Köpfe bei Schweizer Radio und Fernsehen SRF, die bei jedem Filmprojekt mitentscheiden, kritisiert. Zuweilen ist auch die Rede von der Arroganz (oder schlicht Überforderung) von SRF-Mitarbeiter/-innen, die mit einzelnen Regisseuren regelmässig arbeiten, während andere Vorschläge auf die lange Bank geschoben werden. Auch hier geht es letztlich um das heikle Verhältnis von Förder- bzw. Intendantenrolle, ganz abgesehen vom wachsenden Einfluss des Fernsehens auf die Kinofilmästhetik.
Kein Platz für Nachwuchs?
Ihre Unzufriedenheit mit den gegenwärtigen Zuständen formulieren auch Vertreter der jüngsten Generation, aber aus einer anderen Perspektive: Sie fordern mehr Geld für den Nachwuchs, insbesondere für Projekte mit kleinen Budgets. Am Filmfestival von Locarno 2014 hat sich eine Gruppe von jungen (Spiel-)Filmautoren unter dem Namen Swiss Fiction Movement hierzu öffentlich Gehör verschafft. Zum einen monieren die Manifestanten unter dem nicht bescheidenen Titel Small Budgets, Young Talents, Big Fiction11 die schwierige Einstiegssituation junger Filmschaffender in das Förderkarussell.12 Zum anderen machen sie geltend, dass neue Ideen, Innovationen, grosse Kreativität gerade von ihnen kämen, dass sie es seien, die den notwendigen frischen Wind brächten. Die argumentative Verknüpfung von Lebensalter und Kreativitätspotenzial zielt auf die zyklische Wiederholung der Geschichte: Eine neue Generation bricht die künstlerische und qualitative Verkrustung auf, bringt Bewegung in eine von Stagnation dominierte Situation. Dieses Selbstverständnis evoziert Fragen: Ist es tatsächlich so, dass im gegenwärtigen Fördersystem junge Filmautor/-innen wenig Projekte realisieren können? Wenn dem aber nicht so ist, sondern alle Filmergenerationen von dieser Entwicklung betroffen sind: In welchem weiteren gesellschaftlich-kulturellen Kontext stehen die wachsenden Gesuchzahlen, die zu jenem erwähnten Engpass führen? Und schliesslich mit einem Blick auf die Filmproduktion der letzten Jahre: Überzeugen heute tatsächlich gerade die Jungen mit neuen Ansätzen, mutigen, brisanten Themen, formal interessanten Herangehensweisen?
Die erste Frage lässt sich klar mit einem Nein beantworten: Wenn man die geförderten Filmprojekte der letzten Jahre betrachtet, ist festzustellen, dass junge Filmautoren/-innen mit ihren Projekten bei den entsprechenden Kommissionen durchaus Unterstützung gefunden haben. Hier von einer Bevorzugung der älteren Generation per se zu sprechen, entspricht nicht der Realität. Allein seit 2010 konnten zahlreiche Erst- oder Zweitlingswerke (Langfilme) aufgrund der Finanzierung durch Bund (und meist auch Zürcher Filmstiftung und SRF) realisiert werden, u. a. Cyanure von Sévérine Cornamusaz (Jahrgang 1975), Opération Casablanca von Laurent Nègre (1973), Sâdhu von Gaël Métroz (1978), Cherry Pie von Lorenz Merz (1981), Zu zweit von Barbara Kulcsar (1971), Complices von Frédéric Mermoud (1969), Neuland von Anna Thommen (1980), Traumland von Petra Volpe (1970), Off Beat von Jan Gassmann (1983) oder etwa auch Daniel Schmid – Le chat qui pense von Benny Jaberg (1981) und Pascal Hofmann (1977). Und diese kleine Auswahl konzentriert sich nur auf Filme, die auch einen Achtungserfolg oder gar mehr – zum Beispiel Nominationen für den Schweizer Filmpreis – verbuchen konnten. Das erwähnte Nadelöhr aber bewirkt, dass es für den einzelnen Filmautor enger geworden ist, dass insgesamt die rein prozentualen Chancen auf eine Zusage gesunken sind. Doch was sind die Ursachen für die steigenden Gesuchzahlen?
Immer mehr Filmstudierende
Ein wesentlicher Faktor, der zu den steigenden Gesuchzahlen geführt hat, ist die Tatsache, dass die Blüte einer sogenannten Kreativwirtschaft in den 1990er Jahren auch die Gründung bzw. den Ausbau von Filmhochschulen13 im ganzen Land bewirkte. Diese Schulen stehen unter ökonomischem Erfolgsdruck, sie müssen für ihre Ausbildungsgänge werben, um jedes Jahr eine bestimmte Zahl von Studierenden ‹einzuschulen›. Seit 2006/07 sehen die jährlichen Gesamtzahlen der Studierenden so aus: 27, 43, 54, 59, 108, 96, 112, 199. Damit hat sich ihre Zahl vom Hochschuljahr 2012/13 auf 2013/14 zuletzt sogar beinahe verdoppelt.14
Doch kann, soll, muss die Filmförderung diese Explosion auffangen? Ein kleiner Vergleich: Der Verband Filmregie und Drehbuch zählt heute 292 Mitglieder.15 Das wären derzeit anderthalb Fachhochschuljahrgänge im Bereich Film. Dass jeder Absolvent, jede Absolventin einer Filmhochschule auch Regisseur/-in werden soll bzw. kann, ist ein in der Realität nicht einlösbarer Anspruch. Dennoch möchten die meisten Studierenden diese Richtung einschlagen, weniger begehrt sind Karrieren z. B. als Kameramann/-frau, Editor/-in, was nicht zuletzt mit Selbstverwirklichungsvorstellungen zu tun hat, die durch die Traummaschine Kino genährt werden. Die prekären Lebenskonditionen werden dabei wenig bedacht.
Die wachsenden Zahlen von Filmstudierenden haben zwei Folgen. Die Auswirkungen der ersten sind noch lange nicht absehbar: Was nämlich geschieht mit dem heutigen Nachwuchs, wenn er auch einmal 50, 60 Jahre alt ist? Vielleicht unterrichten sie dann an Filmhochschulen, weil sie von ihrem eigentlichen Metier, dem Filmemachen, nicht leben können. Denn das ist ein Phänomen, das man heute schon beobachten kann: Immer mehr Filmhochschulen und Studierende brauchen auch immer mehr Dozierende. Sie beschäftigen gerade auch Filmautoren mit Jahrgang 1960 und älter. Darunter auch jene, die nicht mehr mit dem hohen Risiko, sich ausschliesslich vom Filme-Realisieren zu ernähren, leben können oder wollen. Womit sich die Schlange in den Schwanz beisst, aber keine wirkliche Lösung gefunden ist.
Ein zweites Nadelöhr ist im Begriff, sich zu verengen, und es steht in engem logischem Zusammenhang mit dem Ausbau der Fördersystems und den steigenden Studierendenzahlen: Es betrifft die Vorführmöglichkeiten im offiziellen Kinoprogramm. Auch hier hat sich der Verdrängungskampf verschärft. Angesichts unseres vergleichsweise kleinen Marktes kommen heute sehr viele Schweizer Filme in die Kinos; 2013 waren es über 80 Produktionen mit Schweizer Beteiligung (zum Vergleich: 2010 wurden 65 Filme produziert, von denen rund 60 in die Kinos kamen).16 Procinema schreibt im Facts & Figures-Jahresbericht 2013 zwar von der erfreulichen Steigerung des einheimischen Marktanteils von 5.01 % (2012) auf 6.38 %, beinahe 900’000 Besucher/-innen setzten ihren Fuss in ein Kino, um einen Schweizer Film zu sehen. Aber jede einzelne Schweizer Produktion konkurriert um die Aufmerksamkeit eines Publikums, dem Blockbuster und internationale Staraufgebote geboten werden. Die Entwicklung der medialen Landschaft trägt noch zur Verschärfung der Lage bei, denn es gibt heute viel weniger einzelne Medien-Titel (und damit eine reduzierte Palette an Kritikerstimmen), Umfang und inhaltliche Differenzierung kulturjournalistischer Beiträge zu Schweizer Filmen haben massiv abgenommen.17 Die Frist, die einem Film gegeben wird, um sich zu beweisen, ist geschwunden: Macht er in der ersten Woche nicht genug Zuschauerzahlen, wird er bald auf eine schmale Zeitschiene gesetzt oder aus dem Programm genommen. Eine Lösung könnte in den Online-Angeboten, Streaming oder auch VoD liegen, doch noch sind mit einem Kinostart eindeutige Promotions-, Prestige- und Finanz-Faktoren verbunden, weshalb kaum ein Filmautor darauf verzichten will – ebenso wenig Produzenten oder Verleiher.
Lichtblicke über die Generationen hinweg
Bleibt die Frage, welche Autor/-innen sich in dieser angespannten Situation dennoch behaupten können und welche herausragenden Filme das Fördersystem in den letzten Jahren ermöglicht hat. Zeichnet sich heute ein überzeugendes künstlerisches Schaffen einer neuen Generation ab, die den 50-, 60-Jährigen Konkurrenz macht? Die Liste der CH-Charts 2013 führen Achtung, fertig, WK! von Oliver Rihs (Jahrgang 1971) und More than honey von Markus Imhoof (1941) an. Unterschiedlicher könnten Filme kaum sein: Ersterer eine Spielfilm-Komödie mit manch peinlichem Witz, ganz im Unterhaltungs-Mainstream gehalten, formal-visuell keine ästhetische Innovation eines jungen Autors. Ein Film, der im Inlandmarkt funktioniert, aber dem Schweizer Filmschaffen kein internationales Renommee zu verschaffen vermochte. Der andere ein lehrreicher Dokumentarfilm über Bienen, in faszinierenden Makroaufnahmen festgehalten, gefilmt in China, Österreich, Australien und den USA. Hier wird formal zwar auch kein überraschendes Neuland betreten, doch Imhoof greift ein brisantes Thema auf, das Publikum identifiziert sich mit den fragilen Bienen, der Film beweist internationale Ausstrahlung und wurde u. a. für den Oscar ins Rennen geschickt.
Im selben Jahr waren auch Vaters Garten von Peter Liechti, Rosie von Marcel Gisler, Tableau Noir von Yves Yersin oder Verliebte Feinde von Werner «Swiss» Schweizer in den Top 30 Swiss Films vertreten – die ältere Generation startet also, unbeeindruckt von Abgesängen, noch einmal auf beeindruckende Weise durch. Diese Filmautor/-innen haben nicht nur aktuelle Themen bearbeitet, von einem Beispiel aus dem Bildungssystem über die Diskriminierung von Frauen und Homosexuellen bis hin zum Verhältnis der Generationen, sondern jonglieren durchaus mit filmischen Parametern; am radikalsten tat dies Liechti. Zugleich vertraten aber auch u. a. Gaël Métroz mit Sâdhu oder Lionel Baier mit Les Grandes Ondes (à l’Ouest) die jüngere Generation mit Werken, die eigene künstlerische Handschriften tragen, und der Westschweizer Basil de Cunha (1985) wurde für die Weltpremiere seines Debütfilms Até ver a luz nach Cannes eingeladen. Aus der Westschweiz kommen seit einigen Jahren starke Impulse, insbesondere von den viel gefeierten Mitgliedern der Bande à part (Baier /Meier/ Bron /Mermoud); sie nehmen politische Themen auf, u. a. soziale Ungerechtigkeit oder das Schweizer Politsystem. Ihre Kolleginnen Stéphanie Chuat (1970) und Véronique Reymond (1971) legten mit ihrem Langspiel-Erstling La petite chambre 2010 eine überzeugende Arbeit vor, und wie Sévérine Cornamusaz (1975) mit Coeur Animal erhielten sie nicht nur den Schweizer Filmpreis, sondern wurden u. a. an Festivals in ganz Europa sowie in die USA, Kanada und China eingeladen und mit mehreren Preisen ausgezeichnet.
Der Aufbruch einer jüngeren Generation hat also bereits stattgefunden, wenngleich man regionale Unterschiede feststellen kann: Während sich die Westschweiz im Spielfilm bisher akzentuierter neu positioniert hat, tritt der Dokumentarfilm heute mit Werken der älteren Generation aus der Deutschschweiz stark auf und bestätigt sein internationales Renommee. Dass Generationen gegeneinander ausgespielt werden, ist angesichts dieser Befunde unsinnig, ja kontraproduktiv. Eine Bevorzugung der einen Generation zuungunsten einer anderen wäre gar verheerend, weil sie die Vielfalt der Herangehensweisen reduzieren, künstlerische Substanz letztlich gar gefährden würde. Doch es ist auch nicht so, dass mehr Filme automatisch zahlenmässig auch mehr Qualität und Substanz bedeuten.
Wenn im Manifest des Swiss Fiction Movement steht: «Die Menge an produzierten Schweizer Spielfilmen reicht nicht aus, um genug nationale und internationale Erfolge vorweisen zu können»,18 so ist dem entgegenzuhalten, dass die stark angewachsene Menge der Produktionen nicht die Lösung, sondern Teil des Problems ist. Im Verdrängungskampf schwindet die Aufmerksamkeit für den einzelnen Film. Nicht eine noch grössere Produktion ist gefragt, sondern kompetente und unerschrockene Entscheidungen von Fördergremien, die sich nicht von konventionellen, zuweilen gar biederen Erfolgsrezepten ködern lassen, sondern das künstlerische Potenzial eines Projekts erfassen können und Filmautoren, die neue Wege gehen wollen, ermutigen.