THOMAS HUNZIKER

THE KIOSK (ANETE MELECE)

SELECTION CINEMA

Jeder Tag das gleiche Ritual, immer wieder dieselben monotonen Abläufe … Wer sich schon einmal von seiner Arbeit gefangen gefühlt hat, wird sich zumindest teilweise mit der Hauptfigur des kurzen Animationsfilms The Kiosk von Anete Melece identifizieren können. Die Kioskverkäuferin Olga ist nämlich nicht nur metaphorisch, sondern auch im wahrsten Sinne des Wortes eine Gefangene ihrer Tätigkeit.

Bedingt durch die üppigen Ausmasse ihres Körpers muss Olga wohl oder übel 24 Stunden am Tag in ihrem engen Kioskhäuschen an einer dreckigen Strassenkreuzung verbringen. Dementsprechend besteht ihre tägliche Verpflegung aus den nicht gerade besonders gesunden Snacks im Sortiment des Kiosks. Doch ihre Laune lässt sich Olga nicht einmal vom übelriechenden Qualm des Rauchers verderben, der jeden Morgen pünktlich als erster Kunde vor dem Fenster wartet. Stattdessen bedient Olga vorbildlich die Kundschaft, deren Wünsche sie unterdessen in- und auswendig kennt. Die mollige Frau bietet dadurch mehr als nur «tobacco, bad news, snacks, lotto», sie ist vielmehr eine Dienstleisterin par excellence. Insgeheim träumt sie jedoch von einem schöneren Leben, das sie nur aus Zeitschriften kennt. Als eines Tages ihr Kiosk endlich die Bodenhaftung verliert, kommt Olga den Sonnenuntergängen, mit denen sie das Innere des Kiosks dekoriert hat, endlich ein Stück näher.

Regisseurin Anete Melece hat eine allgemein vertraute Lebenssituation als Ausgangspunkt für ihre leicht melancholische Geschichte gewählt. Ausgehend von ihren eigenen Erfahrungen in einem Büro schildert sie, wie die Bequemlichkeit einer Routinebeschäftigung dazu führen kann, dass der Ausweg aus einer unbefriedigenden Position bald einmal fast unmöglich wird. Olga kann zwar ihre Stellung geniessen, doch in Gedanken ist sie immer weit entfernt. Melece versinnbildlicht die gespaltene Wahrnehmung durch Bilder aus Wasserfarben und Collagen, die durch ih­re Kom­bination von Grautönen und bunten Flecken einen einprägsamen Kontrast bilden. Die Verträumtheit der Hauptfigur wiederum kommt durch die sanften, leicht verwasche­nen Konturen zum Ausdruck. Diese treffende formale Umsetzung hat Melece durch einen manchmal sanft spöttischen, immer aber höchst dezenten Humor angereichert.

Das Werk von Melece wurde weltweit an zahlreichen Festivals mit Preisen für den besten Studentenfilm geehrt, am Tricky Women Festival in Wien und am Fantoche in Baden erhielt Melece zudem den Publikumspreis, und als Krönung wurde The Kiosk bei der Verleihung des Schweizer Filmpreises 2014 als bester Animationsfilm ausgezeichnet.

Thomas Hunziker
*1975, Studium der Filmwissenschaft, Anglistik und Geschichte an der Universität Zürich. Er arbeitet als Radiologiefachmann und betreibt das Filmtagebuch filmsprung.ch. Mit seiner Partnerin und zwei Kindern lebt er in Schaffhausen.
(Stand: 2021)
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