STEFAN STAUB

L’ESCALE (KAVEH BAKHTIARI)

SELECTION CINEMA

Eine bescheidene Bleibe im Untergeschoss eines Athener Wohnhauses. Auf engstem Raum lebt hier eine Gruppe iranischer Migranten, die von ihren Schleppern im Stich gelassen wurden und nun in Griechenland gestrandet sind. Amir, einst selbst ein illegaler Einwanderer mit ähnlichem Schicksal, gewährt ihnen temporären Unterschlupf und unterstützt sie bei der Besorgung von Papieren, die ihnen eine Weiterreise in ein anderes europäisches Land ermöglichen sollen. Doch das unsichere Leben in der Illegalität ist zermürbend und nicht selten wird der Zwischenhalt zur Endstation ihrer Träume.

Kaveh Bakhtiari, Absolvent der ECAL in Lausanne, hat mit L’escale seinen ersten langen Dokumentarfilm inszeniert. Das Projekt nahm seinen Anfang, als Bakhtiari mit seinem Kurzfilm La valise (2007) an einem griechischen Filmfestival eingeladen war. In Athen traf er seinen Cousin Mohsen, der zu jener Zeit in Amirs «Wohngemeinschaft» lebte. Die Lebenswege der beiden Cousins könnten unterschiedlicher nicht sein: Während Bakthiari bereits mit acht Jahren mit seinen Eltern in die Schweiz immigrierte und mittlerweile den Schweizer Pass besitzt, war sein Cousin auf der Flucht nach Europa beinahe ertrunken und hatte vor ihrer Begegnung mehrere Monate in griechischer Haft verbracht.

Bakhtiari nutzt diese Ausgangslage für eine konsequent subjektive Herangehensweise. Er zieht in Amirs Keller ein und wird mit seiner Handkamera zu einem ständigen Begleiter der Migranten. Indem er seinen Protagonisten auf Augenhöhe begegnet, erleben wir die alltäglichen Zermürbungen, die permanenten Ängste und Desillusionierungen aus nächster Nähe. Gerade aus dieser Intimität gewinnt der Film seine emotionale Kraft. So gesehen ist es nur folgerichtig, dass der Filmemacher auf einen erklärenden Off-Kommentar sowie sorgfältig kadrierte Bilder verzichtet und stattdessen ganz auf die Vorzüge der teilnehmenden Beobachtung vertraut.

Nach und nach wachsen einem die Porträtierten ans Herz und die Tragik hinter den einzelnen Schicksalen wird spürbar. Das Politische bleibt dabei zwar meist im Hintergrund, doch finden sich immer wieder einzelne Momente – wie jener am Hafen, wo Flüchtlinge verzweifelt durch die Lücken in den Zäunen kriechen, um auf eines der Kreuzfahrtschiffe zu gelangen – die einem die gesellschaftliche Tragweite der Problematik eindrücklich vor Augen führen.

L’escale feierte seine Premiere an der «Quinzaine des Réalisateurs» in Cannes und wurde an den Solothurner Filmtagen mit dem «Prix de Soleure» ausgezeichnet. Es ist der verdiente Lohn für ein ebenso persönliches wie kraftvolles Leinwanddebüt.

Stefan Staub
*1980 in Bern, studierte Publizistik, Film­wissenschaft und Sozialpsychologie an der Universität Zürich. Zweieinhalb Jahre Promotion und Pressearbeit für Frenetic Films. Fortbildung an der Drehbuchwerkstatt München (2010/11), war in verschiedenen Funktionen für die Internationalen Kurzfilmtage Winterthur und die Solothurner Filmtage tätig, arbeitet seit 2014 als freischaffender Drehbuchautor und ist seit 2016 Mitglied der CINEMA-Redaktion.
(Stand: 2019)
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