SASCHA LARA BLEULER

THULETUVALU (MATTHIAS VON GUNTEN)

SELECTION CINEMA

Die Medien sind voll von Analysen zu den Gefahren des Klimawandels, doch trotzdem bleiben dessen Bedrohung und längerfristige Konsequenzen für den Bürger mit Durchschnittsinteresse an Umweltschutzbelangen schwer fassbar. Matthias von Gunten besuchte zwei Orte auf der Erde, wo die globale Erwärmung nicht bloss theoretisches Konzept, sondern ein sichtbares Monstrum ist, dass gierig immer mehr Lebensraum verschlingt. Szenen, gefilmt im nördlichen Thule in Grönland, zeigen eindrücklich, dass die Tage der vermeintlich ewigen Eisdecke am Nordpol gezählt sind. Die sicher geführte Kamera von Pierre Mennel zeigt in atemberaubenden Bildern Schlitten, die über die Eisdecke fliegen, doch immer wieder treffen die Jäger mit ihren Hunden auf grössere Risse, die nur schwer zu überwinden sind. Einmal schafft es ein Schlittenhund nicht, mit seinem Sprung über den Eisspalt zu seinem Rudel am anderen Ufer zu gelangen. Verzweifelt zappelt das Tier im eisigen Wasser, während die Besitzer fluchend mit Stecken zu helfen versuchen. Die beklemmende Momentaufnahme steht sinnbildlich für die Brüchigkeit der traditionellen Lebensgrund­lage, die den Menschen in Thule buchstäblich wegschmilzt. Früher konnten die Schlitten un­gehindert über die dicke Eisschicht gleiten, nun werden die Risse mit jedem Jahr grösser, bald wird hier überhaupt nicht mehr gejagt werden können. Die Tonaufnahmen fangen das leise Knirschen des Eises ein, das wie eine unheilvolle Vorahnung wirkt.

Auch auf der anderen Seite der Erdkugel macht Thuletuvalu die drastischen Konsequenzen der Polschmelze erfahrbar. In Tuvalu ist der Meeresspiegel bereits so deutlich an­gestiegen, dass viel ehemaliges Wohngebiet im Wasser versinkt. Dem südpazifischen Inselstaat steht das Wasser bis zum Hals, doch trotzdem wollen viele der älteren Menschen nicht wegziehen – lieber ertrinken sie im ansteigenden Meer. Oder aber sie klammern sich an den Glauben, dass die Macht Gottes sie vor der Apokalypse retten wird. Die idyllisch wirkende Natur und die jahrhundertealten Lebensweisen beider Bevölkerungsgruppen stehen in beklemmendem Kontrast zur Tatsache, dass deren Existenz durch den Klimawandel vor der Auslöschung steht. Von Guntens Dokumentation macht das Leiden der Menschen deutlich. Ohne zu dramatisieren, nutzt er die Schönheit der Bilder, um diese vom Untergang bedrohten Welten bereits als schmerzliche Sehnsucht­sorte zu inszenieren, und hält unserer rücksichtslosen Konsumgesellschaft den Spiegel vor. Die stillen Bilder funktionieren als laute Anklage und als trauriger Ab­gesang auf eine schon verlorene Welt. Das Schnittkonzept des Films besticht durch seine Einfachheit und durch die visuellen Kontraste zwischen Schnee­landschaft und Palmstränden: Die Mon­tage trennt und verbindet so zugleich das Schicksal der klimatisch so unterschied­lichsituierten Völker.

Sascha Lara Bleuler
*1977, Schauspielausbildung am Lee Strasberg Theatre & Film Institute in New York. Studium Anglistik, Filmwissenschaft und Fran­zösi­sche Literatur an der Universität Zü­rich. Lehrtätigkeit in Englisch, Filmtheorie und Schauspiel. Freie Journalistin für Filmzeitschriften. Kuratorin von Filmreihen. Programmation der Internationalen Kurzfilmtage Winterthur und des Dokumentarfilmfestivals Visions du Réel. Schauspielerin in Film- und Theaterproduktionen. Lebt in Zürich und Tel Aviv.
(Stand: 2017)
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