THOMAS HUNZIKER

AUBADE (MAURO CARRARO)

SELECTION CINEMA

Der Himmel über dem Seebad Les Bains des Pâquis in Genf flimmert noch dunkelblau, das Wasser glänzt hingegen schon silbern und golden. Der Übergang ist schwer abgrenzbar. In die entgegengesetzte Blickrichtung wird das noch dunkle Wasser durch die Front- und Rücklichter von Autos an der Hafenpromenade mit roten und weissen Streifen beleuchtet, doch langsam geht im Animationsfilm Aubade von Mauro Carraro die Sonne auf.

Gleichzeitig taucht aus dem Wasser zum Klang von Perkussion der Kopf eines Kontrabasses auf. Ein Schwimmer steigt auf eine Rutschbahn und betrachtet eine dunkle Scheibe, die am Horizont erscheint. Eine Schwimmerin liegt auf der Plattform eines Sprungturms und erhebt sich langsam. Dann ertönt das Instrument des Kontrabassisten Mich Gerber, der diesen poetisch inszenierten Sonnenaufgang begleitet. Möwen landen auf den Abgrenzungen des Schwimmbereichs, an denen sich auch zwei Schwimmer ausruhen. Zwei Blesshühner paddeln kopfnickend durch das Wasser – eine Bewegung, die von den beiden Schwimmern imitiert wird. Sie gleiten schwerelos zu einer Plattform, auf der sie drei kleine Papierschiffe vorbeigleiten sehen.

Mauro Carraro fängt in seinem beinahe unbeschreiblich stimmungsvollen Kurzfilm die anmutige Morgenstimmung ein und verwandelt das Genfer Seebecken in eine traumwandlerisch betörende Landschaft. Orientieren sich die Bilder zunächst noch mehrheitlich an der Wirklichkeit, so durchdringen bald einmal surreale Eindrücke die Szenerie. Die Musiknoten, die aus dem Kontrabass von Gerber aufsteigen, werden von Möwen geschnappt, an einem Leuchtturm fahren drei gigantische Papierschiffe vorbei, und ein Blesshuhn verwandelt sich in einen Wal, der seine Fontäne bis zur Sonne spritzen lässt.

Ebenso wie die Bilder von Carraro schweben die kräftigen Klangwelten von Gerber zwischen Nacht und Tag, verwischen die Grenzen zwischen Traum und Realität. Die rhythmischen Melodien treiben die Bilder voran und neh­men gleichsam die Bewegungen von Schwimmern, Seevögeln und sanften Wellen auf. Die Verschmelzung von Bild und Ton ist dem Filmemacher Mauro Carraro und dem Musiker Mich Gerber in ihrer Zusammenar­beit vortrefflich gelungen. Die Kombination der warm glänzenden Bilder mit den kräftigen Tönen verleitet zum Schwelgen in einer hypnotischen Atmosphäre. Aubade ist eine überwältigende Hommage an die Architektur und die Morgenstimmung in den Bädern von Pâquis.

Am Animationsfilmfestival Fantoche wur­de Aubade im Schweizer Wettbewerb mit dem Publikumspreis ausgezeichnet und von der Jury erhielt der Kurzfilm, «der mit verblüffenden Bildern und perfekter Synchronisation mit Musik beeindruckt», eine spezielle Erwähnung.

Thomas Hunziker
*1975, Studium der Filmwissenschaft, Anglistik und Geschichte an der Universität Zürich. Er arbeitet als Radiologiefachmann und betreibt das Filmtagebuch filmsprung.ch. Mit seiner Partnerin und zwei Kindern lebt er in Schaffhausen.
(Stand: 2021)
www.schueren-verlag.de
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