Es regnet. Es ist dunkel. Und es ist fühlbar kalt. In der Mitte des Bildes: der hell erleuchtete Weg zu einer Notschlafstelle für Obdachlose, der sich wie die Einfahrt zu einer Tiefgarage ausnimmt. Menschen strömen dem Eingang zu. Man hört Kinder wimmern und Erwachsene murmeln. Allabendlich spielt sich hier ein kleines menschliches Drama ab: Menschen aus aller Welt suchen ein Obdach und eine warme Mahlzeit. Doch obwohl der Zivilschutzbunker in Lausanne viel mehr fassen könnte, dürfen nur fünfzig pro Abend rein. Das bedingt eine Selektion, stehen doch oft doppelt so viele vor der Tür. «Kinder und Frauen zuerst» lautet – wie bei der Evakuierung vom sinkenden Schiff – das Motto und führt zu herzzerreissenden Entscheiden auf der einen, zu lautstarken Diskussionen ob der Engherzigkeit, der «Willkür» der Auswahl auf der anderen Seite.
Einmal mehr legt Fernand Melgar mit seinem jüngsten Film L’abri den Finger auf eine wunde Stelle im Flüchtlingswesen. Der Westschweizer Filmemacher weiss, wovon er spricht: Er stammt selbst aus einer Emigrantenfamilie, wurde im Exil in Nordafrika geboren und als Kind von seinen Eltern «mitgeschmuggelt», als diese als Saisonniers in die Schweiz arbeiten gingen. So zeichnet L’abri, wie schon Melgars frühere Filme La forteresse und Vol spécial, ein einfühlsames Porträt einer Institution in schwierigem Umfeld. Er lässt uns teilhaben an den Diskussionen unter den Angestellten, die mit grosser Menschlichkeit die schwierige Situation zu meistern suchen, zwischen dem Druck von oben und den Bedürfnissen der Obdach Suchenden. Der Film gibt aber auch Einblick in die Schicksale der Migranten und Migrantinnen, etwa in dasjenige des jungen Mauretaniers, der reüssieren will, um nicht als Gescheiterter in seine Heimat zurückkehren zu müssen; in jenes des Paars aus Spanien, das dort alles verloren hat – Haus, Job, Erspartes – und nun auf eine Anstellung in der Schweiz hofft; wie auch in solche von Roma-Familien, die Richtung Westen aufgebrochen sind, um hier ihr Glück zu suchen.
Der Film evoziert die vielen Facetten beider Seiten und enthält sich wohltuend einer Schwarz-Weiss-Zeichnung. Vielmehr zeigt er die komplexen Problematiken, die hinter den verschiedenen Migrationen stehen, vermag die globalen Verknüpfungen auf kleinstem Raum aufzuzeigen – und stellt gleichzeitig die Bemühungen ebenso wie die Hilflosigkeit und unmenschliche Härte aufseiten der Politik und den von ihr gesteuerten Institutionen dar. Eine Situation, für die es keine wirkliche Lösung gibt. Dies zeigt auch der Film, an dessen Schluss zwar der Frühling steht, aber kein Happy End: Mit dem warmen Wetter schliesst die Unterkunft ihre Pforten bis zum Herbst. Die Hilfsbedürftigen müssen nach anderen Lösungen suchen und zerstreuen sich vor unseren Augen in alle Himmelsrichtungen.