TINA KAISER

TROPICAL MALADY AND BEYOND — RAUSCH UND DSCHUNGEL IM FILM

ESSAY

Manchmal ist es ein Windhauch in den Blättern der Bäume und Pflanzen, im Schilf, auf dem Wasser am Rand des Dickichts ein leichtes Kräuseln, dazu brütendes, verschattetes Sonnenlicht bis flirrende Dunkelheit, durch welche orientierungslose Figuren huschen, schleichen, taumeln – der Dschungel im Film. Dieser Dschungel und sein tropisches Klima1 zeigen sich im Spielfilm in rauschhaften Versatzstücken aus Geschichten und Bildern, die immer wieder konventionellen Erzählstrukturen entkommen. Dies zumeist, indem sie im wahrsten Sinne des Wortes dschungelartige Umwege jenseits oder inmitten der vermeintlichen Haupthandlung beschreiten und dazu mit realistischen Kameraaufnahmen desorientieren. Apichatpong Weerasethakuls Tropical Malady (TH 2004) ist ein zeitgenössisches Paradebeispiel für die Inszenierung rauschartiger Zustände des Selbstverlusts im Dickicht, auch in Ulrich Köhlers Schlafkrankheit (D 2011) klingt dieser Topos erneut an. Was will der Rausch vom Dschungel im Kino und wie wird er in Bildern erzählt? Wie wirkt er sich auf aktuelle Bilder und Dramaturgien aus und in welcher Tradition stehen diese?

Im Gegensatz zu einer modernistischen Agenda der Brüche sind die Bilder dieses Kinos oftmals auch die narrative Entsprechung zu optisch realistischen Kippphänomenen – mit ihnen entsteht die Möglichkeit, sowohl mit als auch jenseits der Handlung zu sehen. Die verwendeten Stilmittel brechen und negieren nicht, sie flüchten eher innerhalb und mit der Filmkonvention und erweitern diese. Es geht um Bilder, die erwarteten Zielen entkommen bzw. ausweichen. Die Wege hierhin können unterschiedliche sein. Seitens der Repräsentation kann es um aus der Wahrnehmungspsychologie bekannte Figur-Grund-Desorientierungen mithilfe der Kadrierung gehen, seitens der Dramaturgie werden hier Szenen erzeugt, die an leere Zeit, Überflüssiges und die «effets de réel» Roland Barthes anknüpfen, die er in seinem gleichnamigen Artikel aus dem Jahre 1968 beschreibt. Der Begriff des Rausches wird dabei sowohl rezeptionsorientiert als Mittel zur Desorientierung und Faszination des Betrachters, als auch innerhalb der filmischen Diegese als Mittel und Thema der Geschichte und ihrer Figurenzeichnung verstanden. Nach Überlegungen zum Begriff des ilinx, des Traums und des Flows in Abgrenzung zum Drogenrausch kommen wir zur ersten Referenz aller Dschungelräusche: Joseph Conrads Herz der Finsternis (Heart of Darkness, 1899). Diese literarische Ursprungsfiktion leitet über zu aktuellen und klassischen Beispielen der Umsetzung filmischer Dschungel-Rausch-Thematiken, die Muster und einzelne Stilmittel der unterschiedlichen Inszenierungen nach und nach offenkundig werden lassen.

Innerhalb der vier Spielkategorien nach Roger Callois gibt es jene des ilinx, die im Sinne des ilingos als Gleichgewichtsstörung für all jene Phänomene steht, die vergleichbar einem Rauschzustand z. B. als eine Art des Schwindelgefühls auftreten.2 Dieses wird bei Caillois in erster Linie durch bewusst gewählte Rotations- und Fallgeschwindigkeiten herbeigeführt, könnte aber auch erweitert als Strudel- oder Taumelwirkung durch verschiedenste physische Befindlichkeiten, Desorientierungen und Beeinflussungen (bewusst oder unbewusst) ausgelöst werden. Im Englischen sind wir hier beim Phänomen des vertigo. Ein Taumel folglich, der durch die Einschränkung oder die Überbeanspruchung der Wahrnehmung auch im Sinne eines Verlusts der Figur-Grund-Orientierung3 ebenso im dunklen bis irritierend beleuchteten Dschungel auftreten kann. Oftmals wird dieser als Gefühl des Schwindels, der Verwirrung oder der Übelkeit beschrieben. Trance und Rausch werden dabei kurzgeschlossen und eine vermeintlich stabile Realitätsauffassung gerät ins Straucheln. Manchmal scheint dies zudem durch ein Schockerlebnis ausgelöst bzw. befördert zu werden – Hitchcock hat ein solches Muster des Taumels mit Vertigo (USA 1958) etabliert. Doch es muss nicht immer ein einzelnes Schockmoment sein, verstanden als ein kurzzeitiges auslösendes Schlüsselmotiv in der Handlung einer Filmgeschichte, das die Protagonisten beeinflusst. In Daniel Grinsteds Studie zu «Vertigo. Im Sog der Bilder»4 wird dies jedoch bei Hitchcock noch einmal beobachtbar. An ein solches Moment beim Protagonisten anschliessende Rausch-, Schwindel- und Wirbelmotive geben sich hier ein klassisches Stelldichein. Ein weiteres Sogmotiv bietet die Autofahrt,5 die im Falle Scotties (James Stewart) zur Verfolgungsfahrt wird: Die Strassen San Franciscos mit ihrem rhythmischen Auf und Ab sowie die zahlreichen Kurven sorgen für einen erneuten Taumel, der nicht zuletzt der langen zehnminütigen Fahrtsequenz geschuldet ist.

Das aktuellere Beispiel hierfür ist eine meditative Autofahrt in Weera­sethakuls Blissfully Yours (TH 2002). Vorbei am Grün des thailändischen Hinterlandes, untermalt von einer leichtfüssigen Thaipop-Variante, findet ein eingängiger Moment des Flows6 statt. Dieser Flow wirkt dabei wie die Vorstufe zum Rausch. In Letzterem sind wir wesentlich gefährdeter, einen Selbstverlust zu erleiden, im Flow ist alles noch viel handelbarer, risikoärmer. Wo man im Flow relativ bewusst in eine Tätigkeit vertieft ist, kann beim Rausch weder von einer gekonnten (und manchmal eben auch nicht selbst gewählten) Vertiefung, noch von einer möglichen Selbststeuerung gesprochen werden. Der Flow ist ein Tätigkeitsrausch, hier also die Steuerung des Autos durch die Landschaft. In den Dschungelszenen werden anfangs ebenso Tätigkeiten ausgeführt, man schleicht, man sucht, man jagt – man verfolgt irgendeine Art von Ziel, die Fortbewegung scheint zumindest zu Beginn noch funktionalisiert. Doch diese Tätigkeiten dienen im Dschungel nur der einleitenden Flow-Freisetzung, die für den Protagonisten alsbald in einen handfesten Rausch übergehen wird. Beginnender bis kompletter Kontroll- und Orientierungsverlust sind die Folge, alsbald dann auch des eigenen Selbstverständnisses sowie gar des eigenen Körperempfindens – Anverwandlungen an die Umgebung, harsche Körperbehandlungen und fast schon paranoide Tarnmassnahmen sind zunehmend irritierte und selbstentäusserte Übungen der Dschungelläufer bis hin zu den Kriechimitationen eines Tieres.

Das Ziel der ursprünglichen Handlung kommt dabei nach und nach abhanden. Die Szenen entziehen sich im Sinne eines Handlungsstrangs eindeutiger Instrumentalisierung, es scheint einzig noch eine Frage des Anwesendseins bzw. Existierens zu sein, möchte man über dramaturgische Funktionen sprechen. Im Flow herrscht also noch definierbares Handlungsbewusstsein, im Rausch kann man von so etwas schon lange nicht mehr sprechen. Er ist geradezu die Störung jeglichen Bewusstseins, er ist der Exzess, er ist immer das Zuviel, das nur schwer bis gar nicht Verkraftbare: Er ist der stille, wartende Dschungel, in dem nahezu alles denkbar wird, würde die Figur des Kapitän Marlow in Joseph Conrads7 Ursprungsfiktion des Dschungelrauschs, Herz der Finsternis, sagen: «Die hohe Wand des Pflanzenwuchses, eine strotzende und ineinander verflochtene Masse von Stämmen, Ästen, Blättern, Zweigen, Rankenwerk, die da reglos im Mondlicht stand, wirkte wie ein tobender Überfall geräuschlosen Lebens, eine heranrollende Woge aus Pflanzen, hochaufgetürmt und bereit, über das Seitengewässer hereinzubrechen, bereit, jedes von uns kleinen Menschenwesen aus seinem kleinen Dasein zu fegen. Und die rührte sich nicht.»8

So wie Béla Balázs bereits in Der sichtbare Mensch (1924) meinte, dass der Film «das Verhältnis von Traum und Träumer zueinander darstellen kann»,9 so erscheint auch der Berauschte im Film gleichsam als Somnambuler. Patrick Kruse und Hans J. Wulff thematisieren diese Parallele in ihrem Rausch-Aufsatz10 ebenfalls gleich zu Beginn, wenn sie eine Beziehung zwischen Traum und Rausch herstellen. Dennoch gibt es einen eindeutigen Unterschied zu benennen: «Der Drogenrausch kann als offenes System betrachtet werden, was bedeutet, dass der Betreffende in der Lage ist, gemäss seiner ‹halluzinatorischen Sinneseindrücke› zu handeln, während im geschlossenen System ‹Traum› der Träumende ‹weitgehend› vom erlebenden Traum-Ich getrennt ist. Man kann sagen, dass die Erlebniswelt des Drogenrausches zwischen der Traumwelt und der äusseren Realität angesiedelt ist».11 Wenn der Rausch auch nicht, wie im Falle des Dschungelmotivs, durch Drogen, sondern durch das Klima, Sinnesüberforderung und die Desorientierung im Pflanzendickicht ausgelöst wird, so macht das offene System auch hier Sinn. Bild und Ton haben darin realistische Möglichkeiten der Rauschdarstellung jenseits eines allzu erschöpfenden Effekteinsatzes. Extreme Licht- und Schattenverhältnisse bei der Abbildung von Blättern, Wurzeln und Ästen tragen einen Grossteil zur Figur-Grund-Ver­wirrung innerhalb der filmischen Kadrierung bei. Hinter- und Vordergrund werden austauschbar, Figuren lassen sich nicht genau erkennen, Durch- und Aufsicht12 werden zunehmend ununterscheidbar. Der Dschungel ist das audiovisuelle Phänomen der Visionen und Einbildungen par excellence, er fordert die sehende Wahrnehmung gerade durch seine realistische Uneinsehbarkeit, seine Unübersichtlichkeit. Damit wusste Conrad bereits in der Literatur zu spielen, als er die Irritation seines Afrikareisenden Marlow zum Ausdruck brachte: «Der Dampfer arbeitete sich weiter am Rand der schwarzen und unverständlichen Raserei hin. […] Wir waren vom Verständnis unserer Umgebung abgeschnitten; wir glitten hinüber wie Phantome, verwundert und insgeheim erschrocken […]. Die Erde schien unirdisch. […] hier blickte man auf ein Ding, das ungeheuer und in Freiheit war.»13 Bei Conrad ist es tatsächlich dieses Ding, die Raserei, das Dunkle, das sich im Dschungel verkörpert. Ob Halluzination, ob Traum, ob Rausch, Conrads Protagonist Marlow scheint dies nicht mehr unterscheiden zu können. In den filmischen Adaptionen zu Herz der Finsternis ist es dem gleichnamigen Film aus dem Jahr 1993 von Nicolas Roeg (Heart of Darkness, USA) auf erhellende Weise gelungen, die Bild- und Tonebene eines solchen Zustands zu verdeutlichen. Subjektive Rauscheinsichten Marlows (Tim Roth) wechseln sich mit der vermeintlich objektiven Kamerasicht ab, so dass der Zuschauer an beiden Seiten teilhat, an den überforderten Perspektiven Marlows sowie an den scheinbar belauernden des Busches und seiner Bewohner selbst. Hier verwischt der Film doppelt die Grenze zwischen Realität und Delirium. Kontrollverlust kann zu Visionen und Halluzinationen führen – die Protagonisten und folglich auch der Zuschauer können nicht mehr zuordnen, was im Film real und was eingebildet ist. Realität und Rausch tanzen im tropischen Klima ihren eigenen Reigen.

Ein Indiz dieses Reigens ist Conrads Motiv eines Flusspferds, das Zauberkraft besitzen und dadurch unverwundbar sein soll. Jedem/r, der/die das Glück hat, dieses mythenhafte Tier am Uferrand des Dschungels zu beobachten, wird dergestalt ein Wunder des Dickichts zuteil.15 Dieses Flusspferd ist es auch, das über hundert Jahre nach Conrad immer noch in Filmen zum Thema herumgeistert und mittlerweile auf seine lange kulturelle Genealogie der Dschungelvisionen verweist: In Köhlers Schlafkrankheit erhält es sogar den prominentesten Part des Films, denn als Zuschauer dürfen wir gegen Filmende selbst an diesem Wunder teilhaben: Ein Flusspferd steht für einige Minuten am Rande des Dick­ichts. In diesem späten Moment des Films sind wir selbst als Zuschauer dann bereit, alle Mythen des Buschs zu glauben, und so bleibt offen, ob das Flusspferd ein Flusspferd ist, ob es reine Einbildung ist oder gar der im nächtlichen Dschungel zuvor verschwundene Arzt, der sich womöglich nun selbst in dieses Tier verwandelt hat. Ein Filmende folglich, das die lange Tradition der rauschhaften Einbildungen im Urwald seit Conrad noch einmal auf den Punkt bringt.

Die beobachtende, lange Einstellung, das Flirren und Brüten des Buschs und die Laute der Natur sind es immer wieder, die für zunehmende rauschhafte Verwirrung der Protagonisten sorgen können. Die Bilder dienen als Zustandsbeschreibungen und entziehen sich auch und gerade in ihren existenziellen Handlungszusammenhängen einer psychologisierenden Erklärung. Sie können aus dem Gesamtzusammenhang gelöst betrachtet werden und bilden ihn doch erst neu. In all diesen Filmen passiert, was an handlungstreibenden Vorgängen passiert oder passieren könnte, zumeist im Off. Das ist eine andere Konzentration, eine andere Erzählweise, eine des Nicht-Erzählens von Aktion und Reaktion, eine des stillen Schauens, Staunens und Taumelns – und wenn, dann sicherlich eine der handelnden Landschaften. Diese Filmbilder verbildlichen im Off eines kausalen Handlungsstrangs das On des Ausnahmezustands Rausch. Sie weichen aus, in den Dschungel und die extrem subjektiven Befindlichkeiten in ihm.

Die Filme Weerasethakuls arbeiten mit diesen ausweichenden Bildern, wenn er das Blattwerk des Dschungels und seine darin delirierenden Protagonisten filmt. Sein tatsächlicher Protagonist scheint gar die Vegetation des Dschungels zu sein. In der Arbeit mit dieser wendet er sich einer a-narrativen und manchmal sogar anti-repräsentativen Bildarbeit zu. Die Abstraktion findet mithilfe der Dunkelheit, der Blätter und Lichtverhältnisse der brütenden tropischen Nacht statt.

So ist es tiefer und immer tieferer Dschungel, den der Soldat Keng in Tropical Malady erkunden muss, um den Viehbestand der Bauern zu retten. Ins dichte Grün der Natur und in ihre flirrende Hitze scheint er sich dennoch immer weniger zu verlieren als zu flüchten. Einen Landschaftsbegriff gibt es hier nicht, man kann dieser Natur allein im desorientierten Rausch begegnen, ja, sie befördert ihn. Für Weerasethakul ist es das Blattwerk, das somatische Zustände im Sehen von Bildern provoziert. Eine Art des Rauschzustands letztlich auch für die Rezeption. Das verschiedenartige Blattwerk, seine dunkel- bis hellgrünen Musterungen und Schattierungen, das Gras, der Bambus, das Rauschen der Vegetation und der Waldboden mit den Fährten eines Tieres – sie nehmen Keng auf. Lassen ihn eintreten in einen Raum der ambivalenten Formen, der ihn fiebernd, halluzinierend und zugleich hellwach macht. Die Kamera fängt in langen Grossaufnahmen verschattete bis vom Sonnenlicht beschienene Fächerblätter und Baumwipfel ein, die leicht vom Wind bewegt werden. In diesen Details wird das Surren des Dschungels wie eine betörende Spannung präsentiert. Es brütet hier etwas, in jeder einzelnen Standaufnahme eines Baums oder Buschs. Ex­treme, bewegte Untersichten von Baumwipfeln steigern diesen Eindruck noch. Schwenks in Totalen verdeutlichen die Winzigkeit Kengs angesichts des unermesslichen Urwalds. Eine Handkamera aus der POV des Protagonisten wiederum zeigt Grossaufnahmen des nächtlichen Waldbodens einzig von einer Taschenlampe erhellt. Man wird sich nach und nach jedes einzelnen Zweigs, jeder einzelnen möglichen Spur im Dickicht bewusst. Keng wird hier zum gewieften Fährtenleser, er erliegt dem Dschungel auf andere Weise als der legendäre Europäer Kurtz, der bei Conrad dem Wahn verfällt. In Weerasethakuls Variante eines thailändischen Soldaten ergibt sich aus der Erkundung des Dschungels und des mit ihm einhergehenden Rauschempfindens ein zunehmendes Bewusstsein für die inneren Zusammenhänge des Dickichts. Die Taschenlampe Kengs fährt mit dem Lichtkegel Teilbereiche des Dschungels ab, in dem plötzlich vermutete Figuren, seltsame Formationen von Ästen zunehmend irritieren.15 Keng muss sich immer wieder Blutegel von Armen und Beinen zupfen, die physische Bedrängnis durch die Natur wird offensichtlich. Keng wird sich ihr nach und nach anverwandeln – er wird selbst Teil des Dickichts, er beschmiert sich, ursprünglich noch aus praktischen Gründen des Hautschutzes, mit Erde, er kriecht und starrt und staunt. Ein Filmraum ist es hier, der Bilder des Dschungels und einen Dschungel der Wahrnehmung auch für den Rezipienten auf einer ästhetischen und manchmal nahezu haptischen Ebene zustande bringt.16

Doch zurück zu früheren Herz der Finsternis-Verfilmungen, die Conrads beschriebenen Urzustand des überforderten Europäers im Dschungel ein ums andere Mal interpretiert haben. In Apocalypse Now Redux (Francis Ford Coppola, USA 1979/2001) ist man für eine längere Sequenz mit Captain Benjamin L. Willard (Martin Sheen) und seinem Begleiter im nächtlichen, blau-grün strukturierten Busch unterwegs. Ein zuerst unbeteiligtes Suchen im Unterholz beginnt, bis die Realität des Dschungels plötzlich als Tiger auf den Plan tritt und die Beteiligten aus ihrem unbewussten Eindringen in die bewusste Beobachtung, die Angst und den Schock reisst. Hier wird nicht verharrt, sondern sofort die relativ hysterische und so das schlechte Nervengerüst der Kriegssituation freilegende Flucht ergriffen. Ganz anders in Tropical Malady: Nach Kengs Delirium lässt die Tigererscheinung die Klimax von Angst, Rausch und Andacht im Unheimlichen des Dickichts in einer erstarrten, nahezu kathedralenhaften Stille aufgehen. Das selbstvergessene Plaudern im feuchtwarmen Klima findet in Apocalypse Now Redux hingegen nur in der Fortbewegung statt. In halbnahen bis nahen Einstellungen gleitet die Kamera mit den beiden Protagonisten immer tiefer und tiefer ins Gebüsch. Die grossen Blätter der Fächerpalmen strukturieren die komplett in Blau-Grün gehaltene Sequenz. Oft verschwinden die Figuren und Gesichter hinter den Blattstrukturen oder werden komplett von ihnen verstellt. Die Pflanzen scheinen die beiden Amerikaner hier zu schlucken – ohne dass sie dies bemerken würden. Der Bildausschnitt wird von den Fächerpalmen strukturiert, die Schärfenverlagerung spielt mit ihnen. Mal sind sie scharf, mal unscharf, insbesondere der Zuschauer muss dabei Orientierungsarbeit leisten. Farbiges Hell-Dunkel und fahles Nachtlicht tragen dazu ihr Übriges bei, bis die Kamera den zunehmend verborgenen Protagonisten ganz vorauseilt und wir nur noch die gleitenden Blattstrukturen sehen.

In Heart of Darkness von Nicolas Roeg haben dagegen bewusstere Dschungelmomente die Oberhand. Hier ist zwar ebenfalls der Protagonist, Kapitän Marlow, sowohl im Dickicht als auch in seinen eigenen Erinnerungen und Visionen gefangen. Er ist dem Rausch am nächsten im Sinne eines konzentrierten Flows, der sich beim Gleiten seines Dampfers vorbei an Pflanzenwänden nach und nach einstellt. Roeg inszeniert hier ganz im Sinne der zuvor zitierten Pflanzenwelle Conrads. Das Licht und seine Strukturen im Dickicht prägen diese Sequenzen, Marlow (Tim Roth) ist erst gebannt und dann zunehmend betäubt vom Pflanzentrieb und der mit ihm einhergehenden Desorientierung. Aus dem Busch dringt die ganze Zeit ein Geräusch des fordernden Atmens. Ein Hungergeräusch, so die Erklärung des Routenfinders Mfumu (Isaach de Bankolé). Eine erste Klimax der Angst stellt sich beim Angriff der Ureinwohner ein.

Mfumu wird durch einen Speer ermordet. Marlow selbst erlebt dabei seine Traumatisierung, sprich das zu Beginn beschriebene klassische auslösende Ereignis befördert auch hier die anschliessenden rauschhaften Visionen, eben im Zuge dieser Zeugenschaft. In der Folge seines Eindringens in den Dschungel werden sich die Bilder des Busches mit denen des sterbenden Mfumu immer mehr überlagern. Der Ton wird verfeinert, selbst das leiseste Geräusch wird im Urwald unheimlich, ein Surren und Wimmern fällt schwer ins Gewicht. Die Sinne sind hellwach und überreagieren gerade deshalb leichter. Selten ist die Konzentration eines «zivilisierten» Europäers so sehr auf die Natur und ihre Klima- und Geräuschverhältnisse ausgerichtet wie in den rauschhaften Nacht- und Nebelszenen des Dschungels. Roeg findet den eindringlichsten Ausdruck für den Einstieg Marlows auf die andere Seite, indem dieser sich nahezu beiläufig und instinkthaft dem Eingeborenenangriff entgegenstellt: Das Nebeldickicht ist seinem Dampfer unaufhaltsam zu Leibe gerückt, seine Mitreisenden sind gelähmt vor Angst, im Dickicht lauern unbekannte Masken, Mfumu verblutet. Marlow vollzieht nun folgende Geste: Er reibt sich seine vom Blut Mfumus bedeckten Hände ins Gesicht, färbt sich dergestalt blutrot ein und starrt stumm und angespannt zurück ins Dickicht. Eine einzelne, sehr unheimliche Eingeborenenmaske im Ufergebüsch starrt zurück. Mit dieser Szene wird klar: Marlow ist hier der Einzige, der mit dem Wahn umgehen kann, eben indem er ihn annimmt und spiegelt. Er passt sich dem Dschungel an, er übernimmt das Wissen und die Ahnungen Mfumus. Er wird hier – selbst im Orientierungsverlust – wieder herauskommen, mit einem neuen Wissen um dieses Andere dort draussen. Eine derartige Geste führt auch Captain Willard am Ende von Apocalypse Now Redux aus, wenn er dem Wasser entsteigt, Schlamm im Gesicht trägt und sich auf den Weg zum nahezu rituellen Mord an Kurtz macht. Willard und Marlow erleben ihren eigenen Rausch, doch sie wissen mit ihm nach Art des Dschungels umzugehen.

Die ausweichenden, ambivalenten Bilder des Dschungels lassen somit ein ums andere Mal ihre narrativen und eingängig-repräsentativen Funktionen weit hinter sich, und dies gerade dadurch, dass sie einer realistischen Tradition entstammen. Es geht hier ebenso um haptische Nachvollzüge des rauschhaften Irrens und Sehens und, wenn es besser wird, des Findens mit einer neuen Instinktsicherheit. In diesem Sinne sind die Szenen und Details des Dschungels eben auch getragen von jenen Wirklichkeitseffekten17 nach Guido Kirsten, die über die klassische Handlungsfunktion hinausgehen, den Zuschauer den Film anders, und ebenso realistischer, rezipieren und empfinden lassen. Darüber hinaus, und wenn man mit Kirsten jenen ersten Effekt narrativ fasst, tritt ein effet du réel im Sinne eines Realitätseindrucks ein. Die Bilder sind aufs Konzentrierteste auf die tatsächliche Situation des Ortes ausgerichtet, Pflanzen in allen erdenklichen Formationen, dazwischen ein paar Gestalten – im Sinne der Naturaufnahmen läuft die Tendenz in nahezu dokumentarische Richtung. Sie stimulieren eine spezielle Zeitwahrnehmung auch dann, wenn sie tatsächlich gar nicht so lange andauern. Die Konzentration auf den Detailreichtum des Dschungels, im Sehen und Nichtsehen, macht dies möglich. Kapitän Marlow, Soldat Keng oder Captain Willard, ob in den Siebzigern, den Neunzigern oder den Nullern dieses neuen Jahrtausends: Alle haben ihren eigenen Dschungelrausch – ihr Irren, Fiebern, Suchen, Schleichen und Anverwandeln – überlebt. Colonel Kurtz und seine Wiedergänger bleiben jedoch immer die Gleichen, sie werden hier nie wieder herauskommen. Jedem eben seine tropical malady, in den realistischen Fiktionen des Dschungels.

Wissenschaftlich korrekt ist der heutige Dschungelbegriff in Bezug auf subtropische Monsunwälder gemeint, wie sie im indischen bis asiatischen Raum anzutreffen sind. Ich nutze ihn hier jedoch in seiner breiteren umgangssprachlichen europäischen Bedeutung für sehr dichten, meist exotischen Wald (von Afrika bis Asien).

Vgl. Grinsted, Daniel: «Vertigo. Im Sog der Bilder», in: Ilinx 1: Wirbel, Ströme, Turbulenzen, Berlin 2009, S. 190–197.

Der Ausdruck bezieht sich auf den Begriff Figur-Grund-Wahrnehmung der Gestaltpsychologie und befasst sich mit der Differenzierung von Vorder- (Figur) und Hintergrund (Grund) und deren zuweilen erfolgender Ununterscheidbarkeit.

Vgl. Grinsted (wie Anm. 2).

Vgl. hierzu Tina Kaiser: Aufnahmen der Durchquerung, Bielefeld 2008.

In diesem Text wird mit dem Begriff Flow die psychologische Bedeutung im Sinne eines Tätigkeitsrausches bezeichnet.

Die biografische Legende am Rande: Conrad selbst hatte seine eigene tropical malady: Auf einer Expedition im Kongo soll er sich ein schweres Fieber eingefangen haben, das ihn Zeit seines Lebens nicht mehr ganz verliess.

Zit. nach: Joseph Conrad: Herz der Finsternis (1899), Zürich 2004, S. 48.

Balázs zit. n. Petra Löffler: «Phantome», in: Ilinx 1: Wirbel, Ströme, Turbulenzen, Berlin 2009, S. 113.

Patrick Kruse / Hans J. Wulff: «Psychonauten im Kino: Rausch und Rauschdarstellung im Film». URL der Online-Fassung: http://www.derwulff.de/2-135, zuletzt abgerufen am 21.6.2014. Eine erste Fassung dieses Artikels erschien in: Kristina Jaspers / Wolf Unterberger (Hg.), Kino im Kopf. Psychologie und Film seit Sigmund Freud, Berlin 2006, S. 107–113.

Kruse/Wulf (wie Anm. 10), S. 5.

Zu den Begriffen der Durch- und Aufsicht bzgl. Kamerafahrten im Film ebenfalls ausführlicher in: Kaiser, Aufnahmen der Durchquerung, Bielefeld 2008.

Conrad (wie Anm. 8), S. 58.

Ebd., S. 46.

Dies wird auch etwas später bei Tropical Malady zum Einsatz kommen.

Hierzu bereits an anderer Stelle ausführlicher in: Kaiser, Tina: «Schärfe, Fläche, Tiefe – Wenn die Filmbilder sich der Narration entziehen. Bildnischen des Spielfilms als Verbindungslinien der Bild- und Filmwissenschaft», in: Klaus Sachs-Hombach u.a. (Hg.): IMAGE – Zeitschrift für interdisziplinäre Bildforschung 17, Köln 2013, S. 128.

Guido Kirsten, Filmischer Realismus, Marburg 2013, S. 169.

Tina Kaiser
*1976, Dr. phil., Studium der Kunst-, Film- und Kulturwissenschaften in Berlin und Lü­neburg. 2008 Promotion mit der Arbeit Aufnahmen der Durchquerung – Das Transitorische im Film (Transcript Bielefeld). Arbeiten als Autorin, Film- und Medienwissenschaftlerin sowie im Kinospielfilmbereich. 2011–2014 organisatorische Leitung des Marburger Kamerapreises. 2012–2013 Mitglied des DFG-Forschungsnetzwerks Filmstil. Seit 2013 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Medienwissenschaft der Universität Marburg. Ihr derzeitiges PostDoc-Projekt trägt den Titel Ausweichende Bilder. Narrative und repräsentative Strategien im aktuellen Weltkino.
(Stand: 2016)
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