STEPHANIE WERDER

«KINOFUSEL» — BILDERRAUSCH IM FRÜHEN FILM

ESSAY

«Ein ‹stark Getränk›, der ‹Kientopp-Fusel›, er schmuggelt sich durch die ganze Welt.»1 So beschreibt der Sozialreformer Victor Noack 1912 in seinem polemischen Artikel «Der Kientopp» die Allgegenwart des Kinos. Schädlich und gefährlich wie ein minderwertiges Rauschmittel sei das neue Medium, das sich schon über alle Kontinente ausgebreitet habe. Mit dem Vergleich von Kino und Alkohol steht Noack unter den Vertretern der deutschsprachigen Kino-Debatte der 1910er und 1920er Jahre nicht alleine: Dieser zieht sich motivisch durch die Texte von Bildungsbürgern, Literaten und Journalisten, als Mittel, um kraftvoll Kritik am ungeliebten, sich gerade etablierenden Medium anzubringen.2 Das Kino erregt in dieser Zeit nicht nur als ein auf Technik beruhendes und von der kapitalistischen Filmindustrie abhängiges Massenmedium Anstoss, sondern bringt mit dem Bewegtbild auch eine neue, die Sehgewohnheiten der Zeitgenossen herausfordernde Wahrnehmungsform mit sich.3 Weshalb taucht aber gerade der Kino-Alkohol-Vergleich, und damit auch immer wieder die Rede vom Rausch, als so prominentes Motiv in der Kino-Debatte auf?

Den zeitgenössischen Klagen über den «Kinofusel» seien hier zwei frühe Filme entgegengestellt, in denen der Vergleich von Kino und Rauschmittel ebenfalls angestellt wird – jedoch auf implizite Art und Weise und mit einem andersgearteten Ergebnis als in den kinokritischen Texten. In Rêve à la lune (auch L’amant de la lune, Ferdinand Zecca, Gaston Velle, Pathé, F 1905) und Dream of a Rarebit Fiend (Edwin S. Porter, Wallace McCutcheon, Edison, USA 1906) wird der Alkoholrausch der betrunkenen Protagonisten mittels kinematographischer Mittel visuell – als «Bilderrausch» – umgesetzt. Mit rauschhaft-verzerrten und fantastischen Bildwelten verweisen diese Filme selbstreflexiv auf ihr mediales Potenzial, auf ihre eigenen gestalterischen Möglichkeiten. Hier wird klar: Was der Alkohol in dieser Hinsicht vermag, kann das Kino eigentlich noch viel besser. Zunächst soll aber dem Vergleich von Kino und Alkohol in der Kino-Debatte nachgegangen werden.

Anschreiben gegen den «Kinofusel»

Über die rauschartige Wirkung des Kinos auf die Zuschauer wettert der bereits oben zitierte Victor Noack:

So ein passionierter «Kientoppschleicher» unterscheidet sich, nachdem erst der obligate «Schlager» seines «Stammkinos» ihn in das gewöhnte Stadium der «Gehirntaubheit» versenkt hat, nicht sonderlich von dem Destillenbruder, dessen Gehirn die gewöhnte Aetherdouche empfangen hat. Der materielle Fusel und der intellektuelle Fusel sind zwei gleich gefährliche Gifte.4

Der Vergleich von Kino und Alkohol taucht in den oft polemischen Texten der Kino-Debatte nicht zufällig auf – dagegen spricht schon die Frequenz, mit der dieses Motiv in all seinen Ausgestaltungen zu finden ist. Die Gründe für dieses gehäufte Vorkommen lassen sich bei genauerer Betrachtung vermuten. Ganz allgemein schliesst der Vergleich an ein brisantes soziales Thema der Zeit an: Gegen Ende des 19. Jahrhunderts gerät die Problematik des Alkoholismus, besonders in den im Zuge der Moderne schnell anwachsenden unteren Gesellschaftsschichten in den Städten, in die öffentliche Wahrnehmung; vielerorts entstehen etwa Abstinenzvereine und andere Gruppierungen mit ähnlichen sozialen Interessen. Die zeitgenössische diskursive Relevanz dieses sozialen Umstands alleine erklärt jedoch noch nicht, warum so viele Autoren der Kino-Debatte in ihren Ausführungen auf diesen Vergleich zurückgreifen. Vielmehr handelt es sich bei der Gleichsetzung von Kino und Alkohol um ein Motiv, das sich nicht nur seiner wirkungsmächtigen sprachlichen Bildhaftigkeit wegen leicht in diese oftmals scharfzüngig formulierten Texte einfügt, sondern auch, weil damit an mehreren Enden an zentrale Argumente innerhalb der Kino-Debatte angeknüpft werden kann.

Zunächst wird mit dem Vergleich von Kino und Alkohol oftmals die allgemein konstatierte rauschhafte Wirkung des Kinos auf die Zuschauer beanstandet. Victor Noack, ein sozialreformerisch engagierter Vertreter der Kino-Debatte, befürwortet wie viele seiner Zeitgenossen zwar den Einsatz der Kinematographie zu wissenschaftlichen und pädagogischen Zwecken, durch die derben Filminhalte und die oftmals schlechten Raumverhältnisse der kommerziellen Kinovorführungen seien jedoch die «soziale Ethik, die soziale Moral und die sexuelle Ruhe» sowie die «physische Gesundheit des Volkes»5 gefährdet. In einer Broschüre aus dem Jahr 1913 setzt Noack den Effekt einer Kinovorführung auf das Publikum dem Taumel und der geistigen Umnebelung von Betrunkenen gleich:

«Schlager» lautet der Fachausdruck für die brutalen «Filmdramen». Sehr treffend! Sie schlagen dem Publikum auf die Nerven. Der Effekt ist Betäubung. Diese Menschen kommen erst wieder zu sich, wenn sie nach elf auf die Straße, in die frische Luft hinaustaumeln, wo es ja auch dem Betrunkenen gewöhnlich erst aufdämmert, daß er zu viel Alkohol genossen habe.6

Auch Curt Moreck (1888–1957, eigentlich Konrad Haemmerling), der dem Kino insgesamt versöhnlicher gegenübersteht, greift noch 1926 auf das Alkohol-Motiv zurück, um die Rauschwirkung des Kinos hervorzuheben. In seiner Sittengeschichte des Kinos begreift der Schriftsteller und Journalist das Medium als Ersatz für das echte Glück. Dieses sei dem durch die modernen Lebensumstände erschöpften Menschen nicht mehr möglich, der ein entseeltes Leben innerhalb einer veräusserlichten, materialistischen Kultur führen müsse. Der Kinotraum und der Kinorausch würden für die entwurzelten Grossstadtbewohner aber lindernde «Glückssurrogate»8 darstellen, denn das Kino biete zerstreuende Unterhaltung, die ihnen Erlösung vom anstrengenden Alltagstrott gewähre: «Analog dem durch Alkoholika und andere Mittel erzeugten Rausch ist der Kinorausch die Bezeichnung einer befriedigten, von der Erdenschwere erlösten Seelenstimmung.»9 Das Kino wird von Moreck zwar als Unterhaltungsmittel mit sozialer Bedeutung anerkannt, gleichzeitig aber auch, verbunden mit dessen kulturkritischer Abneigung gegen die Moderne, in wehmütig empfundener Dis­tanz zu älteren Kunstformen beschrieben. Dabei tritt in seiner Abhandlung an mehreren Stellen das Moment der körperlichen Beanspruchung der Zuschauer bei gleichzeitiger geistiger Passivität hervor. Gerade in Morecks Vergleich von Kinorausch und Narkotikumrausch scheint eine gewisse Geringschätzung des Kinos und dessen Wirkung auf den Körper durch:

Heute aber erlebt der Massenmensch im Kino nichts als Sensation, die seine Nerven zittern läßt, und wenn ihm Rausch und Traum zuteil werden, so sind es doch Rausch und Traum, wie man sie aus narkotischen Giften sich trinkt.10

Ähnlich wie der Kinoreformer Hermann Häfker (1873–1939), der 1913 die Reizüberflutung in den Grossstädten, zu der für ihn auch die sensationellen, unkünstlerischen Darbietungen im Kino gehörten, für die moderne «Fuselrauschstimmung»11 verantwortlich erklärt, ist es auch für Moreck das «Übermaß an einwirkenden Bild- und Lichtreizen», das den Kinorausch «zum wirklichen Rausch»12 mache. Etwas später heisst es bei diesem:

Der Kinorausch ist genau so echt wie ein Wein- oder Schnapsrausch. In ihm ist das Kino Selbstzweck geworden. Der Rauschsüchtige geht ins Kino, um sich zu vergessen, um der Sensation irgendeines tätigen Triebes leichter zugänglich zu sein. Was auf der weißen Fläche vorübersurrt, ist ihm egal.13

Im Verweis auf die rauschartige und körperliche Wirkung des Kinos hallt eine zentrale Denkfigur innerhalb der Kino-Debatte wider. Aus Sicht der eher kinokritischen Vertreter der Debatte ist das Kino den traditionellen Kunstformen entgegengesetzt, die gemäss idealistischer, bildungsbürgerlicher Ästhetik auf ein kontemplatives Betrachten abzielen. Stattdessen liege im Kino ein ganz anders gearteter Rezeptionsmodus vor: Das neue Medium habe eine eher körperlich und nervös aufregende statt geistig anregende Wirkung. Das automatisch fortschreitende Bewegtbild verunmögliche die geistige Vertiefung und Kontemplation eines Gegenstandes; die stummen Filme seien anti-intellektuell und Zeichen einer attraktionsbesessenen, verflachten Unkultur.14 Die «Nerven», deren Überreizung Noack, Moreck und viele andere Autoren kritisch beurteilen, stellen dabei einen in dieser Zeit aufgeladenen Signalbegriff dar, der nicht nur im medizinischen Umfeld, sondern auch in kulturellen Diskursen häufig anzutreffen ist – innerhalb der Kino-Debatte werden damit meistens die negativen Seiten des modernen Zeitalters und auch des dazugehörigen neuen Mediums Kino hervorgehoben. Die Rede vom Rausch, dem Taumel, der Betäubung oder der Gehirntaubheit, die bei Kinogängern entstehe, muss vor dem Hintergrund dieser Kritik am körperlichen, aufregenden Effekt des Kinos und seiner fehlenden Geistigkeit gelesen werden.

Nicht selten warnen die Autoren der Kino-Debatte, wie schon oben Noack, auch vor der körperlichen oder seelischen Vergiftung, die vom Kino ausgehe. Vielen Theaterleuten war besonders der (theaterähnliche) Spielfilm ein Dorn im Auge. So galt der Spielfilm etwa für den Dramatiker und Theaterkritiker Julius Bab (1880–1955) als «Kulturgefahr». Er schreibt 1912: «Ich für mein Teil bin der Ansicht, daß die seelische Vergiftung durch die Filmdramatik der physischen Alkoholvergiftung durchaus nicht an Gemeinschädlichkeit nachsteht.»15 Auch aus der Sicht des Bühnenautors Ludwig Fulda wird dem Volk durch die kolportagehaften, sensationalistischen Filmdramen «geistiger Methylalkohol ausgeschenkt».16 Der Theaterkritiker und Journalist Hermann Kienzl meint 1911 ebenfalls, in den trivialen Filmdramen eine besonders geschmacksverderbende Gefahr zu wittern, eine «Volksvergiftung»,17 und rückt die Schaulust des urbanen Kinopublikums assoziativ in die Nähe von dekadenten «Arsenik-essern».18

Wie beim Alkohol (und anderen Rauschmitteln) bestehe auch beim Kino Suchtgefahr. Noack thematisiert eingehend die Kinosucht als «Volkslaster», vor allem in Bezug auf deren verheerende ökonomische Bedeutung für das Proletariat.19 Auch aus Morecks Sicht gehört der typische regelmässige Kinobesucher

meist jener Gesellschaftsklasse an, die den letzten Groschen für das Kino unbedenklich hinwirft, statt ein Stück Brot für den hungernden, knurrenden Magen zu kaufen. Dort ist die Kinosucht eine tiefpackende Leidenschaft geworden, wie in höheren Schichten etwa die Morphiumsucht.20

Häufig kommt beim Vergleich von Kino und Alkohol wie bei Noack und Moreck auch eine Irritation gegenüber den durch das Kino angesprochenen proletarischen Massen zum Ausdruck. Das Kino steht aus Sicht einiger Vertreter der Debatte als pöbelhaft sensationelles, proletarisches Volksvergnügen für die Unterschichten im krassen Gegensatz zur echten, bürgerlichen Hochkultur.21 So tritt beispielsweise im Artikel «Das Theater der kleinen Leute» von Alfred Döblin (1878–1957) eine grundsätzliche Befremdung gegenüber der neuen Unterhaltungsform zu Tage, die auf die Masse und deren Sensationsbedürfnisse ausgerichtet war. Der Schriftsteller zieht eine Verbindung zwischen Kinobesuchern und Alkoholikern, wenn er, von der Warte eines ernüchterten Höhergebildeten aus, das Kino als vom Volk benötigte «blutige Kost» beschreibt und als «vorzügliches Mittel gegen den Alkoholismus, schärfste Konkurrenz der Sechs­erdestillen»22 bezeichnet.23 Döblins sarkastisch-ernüchterter Ton macht klar, dass hier nicht etwa eine tatsächliche positive soziale Auswirkung der neuen Unterhaltungsform in Erwägung gezogen wird. Diese Ausprägung des Alkohol-Motivs erklärt sich teilweise wohl auch damit, dass die grossstädtischen, unteren sozialen Schichten, deren Alkoholkonsum von der Öffentlichkeit als Pro­blem wahrgenommen wurde, einen grossen Teil des damaligen Kinopublikums ausmachten.

Einige Autoren setzen zu guter Letzt auch die Kinobetreiber und die Filmindustrie mit Kneipenbesitzern bzw. Alkoholherstellern gleich. Für Noack herrschen unter den «Kientoppmeister[n]» und den «Fuselverkäufer[n]»24 die gleichen Geschäftsprinzipien: Sie versuchen, ihre schlechte Ware in möglichst hoher Zahl an die breite Masse abzusetzen. Ähnliche Aussagen trifft 1913 der Schriftsteller Moritz Heimann.25 Auch diese Variante des Vergleichs schliesst an eine Argumentationslinie innerhalb der Kino-Debatte an. Für viele schloss die Abhängigkeit des technikbasierten Mediums vom Markt, von einem Massenpublikum, das Entstehen von Kunst von vornherein aus.26

Der Vergleich von Kino und Alkohol tritt also nicht nur aufgrund der zeitgenössischen Relevanz des Themas Alkohol so häufig in der Kino-Debatte auf, sondern auch wegen seiner Anschlussfähigkeit an grundsätzliche Kritikpunkte innerhalb dieser Texte, die von einer Skepsis gegenüber dem neuartigen Medium zeugen. Mit dem Vergleich schreiben die Autoren gegen die körperlich aufregende statt geistig anregende Inanspruchnahme des Publikums an, wofür ihnen neben dem Verweis auf die Vergiftung oder die Kinosucht der Zuschauer vor allem deren Rausch als zentraler Vergleichspunkt dient. Indem sie das Kino mit dem Alkohol gleichsetzen, kritisieren sie ausserdem die Ausrichtung des Mediums auf ein proletarisches Massenpublikum und verleihen ihrem Unmut über die kapitalistischen Prinzipien unterworfene Filmindustrie und Kinobranche Ausdruck.

Bilderrausch – Von tanzenden Flaschen und Schwindel-
Bildern

Der Alkohol erscheint nicht nur als beliebtes Motiv in den Argumenten der Kino-Debatte, auch die Filme selbst weisen in dieser Zeit eine thematische Vorliebe für ihn auf. Neben sozialreformerisch ausgerichteten Filmen, die vor den verheerenden gesellschaftlichen Folgen des Alkoholkonsums warnen (zu denken wäre an Filme wie Les victimes de l’alcoolisme, Ferdinand Zecca, Pathé Frères, F 1902), wird der Genuss von Alkohol überwiegend in frühen grotesken und burlesken Komödien dargestellt. Schon seit den Anfängen des Films gehören stark alkoholisierte Figuren mit ihrer oftmals subversiven Zerstörungskraft ins feste Repertoire dieser beschwingten Streifen. Die Berauschten torkeln durch die Gegend, stiften dabei allerlei Unruhe und prügeln sich auch nicht selten wild mit Polizisten und anderen, die sich ihnen in den Weg stellen, wie etwa in La cardeuse du matelas (Georges Méliès, Star Film, F 1906) oder Max, victime du quinquina (Max Linder, Pathé Frères, F 1911). In Toto ne boira plus d’apéritif (Pathé Frères, F 1911) bedient sich gar ein kleiner Junge heimlich am väterlichen Aperitifglas und bekommt schon bald die wenig erquickenden Folgen davon zu spüren.

Auch in Rêve à la lune und Dream of a Rarebit Fiend stösst man auf das beliebte Thema. Die Darstellung des Alkoholrauschs fungiert in diesen Filmen jedoch weder als Warnung an das Kinopublikum noch primär als Auslöser von Lachsalven: In ihnen motivieren vielmehr der Rausch und die durch ihn ausgelösten Halluzinationen und Träume visuell eindrückliche Tricksequenzen. Das Alkoholdelirium der dargestellten Figuren wird hier filmisch umgesetzt und zeigt sich den Kinozuschauern als imposanter Bilderrausch.

Der Protagonist von Rêve à la lune kommt zu Beginn des Films stark betrunken nach Hause und betritt, nach einer Rauferei mit einem anderen Hausbewohner und langem Suchen nach dem Schlüsselloch, seine Wohnung. Während der Anfang des Films zunächst den Anschein einer herkömmlichen Betrunkenen-Komödie erweckt, setzt nun eine fantastische Geschichte ein, wenn in der Wohnung des Protagonisten dessen rauschhafte Halluzinationen beginnen. Eine Flasche, die dieser in seinem Suff umstösst, verwandelt sich in eine menschenähnliche Flaschenfigur, die sich wiederum im Nu verdreifacht. Es folgen ein fröhlicher Tanzreigen des Betrunkenen mit den Flaschenwesen sowie ein Paartanz mit einem anthropomorphen Holzfass. Die Gestalten verschwinden daraufhin so schnell, wie sie erschienen sind. Die damals neuartigen Trickverfahren wie Stopptricks und Doppelbelichtungen dürften für die zeitgenössischen Zuschauer eine Attraktion für sich dargestellt haben.

Im folgenden Rauschtraum geht es nicht weniger fantastisch zu und her: Der Berauschte klettert auf ein Dach und fliegt, auf einem Kaminrohr reitend, über Stadt und Land hinweg Richtung Mond. Die durch Doppelbelichtung erzielte Kombination von gemalten, zum Teil animierten Kulissen und Realaufnahmen besticht heute noch durch ihre fantastische Schönheit. Der Protagonist fliegt durch ein mit handkolorierten gelben und roten Blitzen dargestelltes Gewitter und gelangt darauf zum Mond, von dem er verschluckt und wieder ausgespuckt wird, und fällt schliesslich kopfüber «aus allen Wolken» zurück in sein Schlafzimmer. Durch den Sturz aus dem Bett erwacht er und ist wohl noch immer berauscht: Seine Wanduhr erscheint ihm jetzt als das Mondgesicht, worauf er diese mit einer Flasche (womit auch sonst!) bewirft, sodass sie schliesslich zerbricht.

Nur ein Jahr später erscheint Edwin S. Porters Film Dream of a Rarebit Fiend, der von Rêve à la lune inspiriert zu sein scheint. Auch hier setzt der Rausch des Protagonisten eine fantastische Halluzinations- und Traumhandlung in Gang, die den Zuschauern eindrückliche Schauwerte bietet: Berauscht von einer regelrechten Fress- und Sauforgie verlässt der Protagonist des kurzen Films das Restaurant und begibt sich taumelnd auf den beschwerlichen Heimweg. Durch Mehrfachbelichtung entstehen für die Zuschauer schwindelerregende Bilder: Der Betrunkene klammert sich an einer schwankenden Säule fest, während im Hintergrund mit bewegter Kamera aufgezeichnete Stadtbilder vorbeisausen. In seiner Wohnung angekommen und von Kopfweh gequält, legt sich der Betrunkene ins Bett. Da beginnen sich seine Schuhe, die Stühle und der Tisch von selber zu bewegen, drei kleine Plagegeister erscheinen und malträtieren seinen Kopf, worauf sein Bett zu hüpfen anfängt und mit ihm durchs Fenster springt. Das Bett fliegt nun mit dem verängstigten Rauschträumer über die Stadt hinweg, nur mit Mühe kann er sich noch festhalten, bis seine Kräfte schliesslich versagen. Kurze Zeit bleibt er mit seinem Nachthemd an einer Wetterfahne hängen und bricht schliesslich durch die Decke in sein Schlafzimmer, wo er, von diesem Traumerlebnis noch zitternd, wieder zu sich kommt.27

Wie schon in Rêve à la lune entsteht auch in Dream of a Rarebit Fiend für die Zuschauer eine Art Bilderrausch. Durch die aufwendige Gestaltung des Films werden den Zuschauern eine Reihe visueller Attraktionen geboten – Trickverfahren wie Stopptricks, Mehrfachbelichtungen und Zeichentrick­animation, zudem die Arbeit mit bewegter Kamera, Miniaturmodellen und gemalten Kulissen, schliesslich auch die Einfärbung des Filmmaterials durch Virage.28 Speziell mit den Kamerabewegungen und Mehrfachbelichtungen nähert sich dabei die filmische Gestaltung der Wahrnehmung einer betrunkenen, taumelnden Person an. Es entsteht gleichsam eine kinematographische Umsetzung des Rauscherlebens.

Während die frühen Kinogegner und -kritiker in ihren Texten mit dem Alkohol-Motiv die nervenaufreibende, sensationell körperliche Wirkung des Kinos, seine Affiliation mit der grossstädtischen modernen Massenbevölkerung und die kapitalistischen Geschäftsstrategien von Filmindustrie und Kinovorführern rügen, wird der Kino-Alkohol-Vergleich in den beiden hier besprochenen Filmen implizit und unter anderem Vorzeichen vorgenommen. Anders als im intellektuellen Diskurs über das Kino nehmen diese keine kritische Haltung ein, sondern bedienen die Lust des Publikums am rauschartigen Kino-Erlebnis. Indem die Zuschauer den durch verschiedene filmische Mittel dargestellten Bilderrausch der alkoholisierten, halluzinierenden und träumenden Protagonisten auf der Leinwand mitverfolgen können, werden ihnen auch die medialen Möglichkeiten des Kinos vorgeführt: Rauschhafte, irreale Bildwelten lassen sich nicht nur durch den Konsum von Alkohol herbeiführen, sondern können gerade auch im Kino erlebt werden. Der «Kientopp-Fusel» schmeckte eben doch – das musste sich sogar das scheinbar kinoabstinente Bürgertum irgendwann eingestehen.

Victor Noack, «Der Kientopp» [1912], in: Jörg Schweinitz (Hg.), Prolog vor dem Film: Nachdenken über ein neues Medium, 1909–1914, Leipzig 1992, S. 70–75; hier S. 71.

Darauf wurde in der Forschung schon mehrfach hingewiesen, siehe dazu etwa Heinz-Bernd Heller, Literarische Intelligenz und Film: Zu Veränderungen der ästhetischen Theorie und Praxis unter dem Eindruck des Films 1910–1930 in Deutschland, Tübingen 1985, S. 45–53; sowie Jörg Schweinitz (wie Anm. 1), S. 57. Florian Nelle weist mit einigen US-amerikanischen Beispielen zudem darauf hin, dass der Vergleich auch ausserhalb des deutschsprachigen Raums zu finden ist: Florian Nelle, Künstliche Paradiese: Vom Barocktheater zum Filmpalast, Würzburg 2005 (= Film – Medium – Diskurs 13), S. 308.

Jörg Schweinitz (Hg.), Prolog vor dem Film: Nachdenken über ein neues Medium, 1909–1914, Leipzig 1992, S. 5–11 und S. 145–152.

Noack (wie Anm. 1), S. 70.

Noack (wie Anm. 1), S. 73.

Victor Noack, Der Kino. Etwas über sein Wesen und seine Bedeutung, Leipzig 1913, S. 8.

«Cinematograph. (From Another Point of View)» (aus: Pick-Me-Up, GB, 25. April 1896). Den Hinweis auf diesen Comic verdanke ich Stephen Bottomore, der ihn seinerseits abgedruckt hat, in: Ders., I Want to See this Annie Mattygraph. A Cartoon History of the Coming of the Movies. (Voglio vedere quest’Annie Matografo: le origini del cinema nei disegni umoristici dell’epoca), Gemona 1995.

Curt Moreck (d.i. Konrad Haemmerling), Sittengeschichte des Kinos, Dresden 1926, S. 79.

Moreck (wie Anm. 8), S. 75.

Moreck (wie Anm. 8), S. 69.

Hermann Häfker, Kino und Kunst, München-Gladbach 1913, S. 6.

Moreck (wie Anm. 8), S. 75.

Moreck (wie Anm. 8), S. 78.

Vgl. Schweinitz (wie Anm. 3), S. 7 f. und S. 145 f.

Julius Bab, «Die Kinematographen-Frage», in: Die Rheinlande 22 (1912), S. 311–314; hier S. 313.

Ludwig Fulda, «Theater und Kinematograph», in: Die Woche 16, Jg. 14 (Berlin, 20. April 1912), S. 639–642; hier S. 641.

Hermann Kienzl, «Theater und Kinematograph» [1911], in: Schweinitz (wie Anm. 3), S. 230–234; hier S. 233.

Kienzl (wie Anm. 17), S. 231.

Noack (wie Anm. 6), S. 8 f. Siehe auch Noack (wie Anm. 1), S. 74.

Moreck (wie Anm. 8), S. 71.

Vgl. Schweinitz (wie Anm. 1), S. 7. Dies verhalte sich bei sozialdemokratischen Autoren nicht anders (vgl. S. 61–64), was hier am Beispiel von Döblins Text sichtbar wird.

Alfred Döblin, «Theater der kleinen Leute» [1909], in: Schweinitz (wie Anm. 3), S. 153–155; hier S. 155.

Interessanterweise wird in einem zeitgenössischen amerikanischen Text ein tatsächliches Konkurrenzverhältnis zwischen Kino und Saloons behauptet: Barton W. Currie, «The Nickel Madness» [1907], in: Gerald Mast (Hg.), The Movies in our Midst: Documents in the Cultural History of Film in America, Chicago 1982, S. 45–51; hier S. 50.

Noack (wie Anm. 1), S. 70.

Moritz Heimann, «Der Kinematographen-Unfug» [1913], in: Anton Kaes (Hg.), Kino-Debatte: Texte zum Verhältnis von Literatur und Film 1909–1929, Tübingen 1978, S. 77–81; hier S. 77 f.

Vgl. Kaes (wie Anm. 25), S. 9–17.

Vorbild für diese Bettflug-Szene ist ein am 28. Januar 1905 in der US-amerikanischen Zeitung Evening Telegram erschienener Comicstrip von Winsor McCay, dessen Comicserie Porters Film auch seinen Titel schuldet.

Der Film übte wohl auch seine Faszination auf Georg Lukács aus, der diesen in seinem Essay «Gedanken zu einer Ästhetik des ‹Kino›», zwar ohne den Titel zu nennen, beschreibt und ihn als Beispiel für die dem Kino wesenseigene Fähigkeit zur fantastischen Darstellung anbringt («Gedanken zu einer Ästhetik des ‹Kino›» [1911], in: Schweinitz (wie Anm. 3), S. 300–305; hier S. 305).

Stephanie Werder
*1986, Studium der Deutschen Sprach- und Literaturwissenschaft, Filmwissenschaft und Englischen Sprach- und Literaturwissenschaft an der Universität Zürich. Doktorandin im Rahmen des NCCR Mediality am Seminar für Filmwissenschaft der Universität Zürich; arbeitet am Dissertationsprojekt Die Nervosität des Films (1895–1918) Dynamik einer media­len Auffälligkeit. Seit 2015 Mitglied der CINEMA-Redaktion.
(Stand: 2019)
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