Es ist dieses Wilhelm Meister-System, das den Zusammenhalt der westlichen Gemeinschaft hervorbringt. Im Westen ist die Zivilisation nicht Heimat, sondern Ausstrahlung, Kultiviertheit. Demokratie und Integration. Die Kultiviertheit hat den Mythos und die Legende verdrängt und an ihrer Stelle die Geschichte gesetzt. Geschichte ist schwächer als der Mythos. [...] Kultiviertheit heisst, den Kontakt zur elementaren Welt verloren zu haben. Es gibt keine Magie, sondern nur Technik, keine Schöpfung, sondern nur Arbeit. Bela Hamvas Film arbeitet mit Malerei, Literatur, Theater, Musik. Alles oder nichts. Wo hört der Film auf? Die amerikanischen Filme der fünfziger Jahre haben die Farbpalette heutiger Maler beeinflusst, sagt Frieda Grafe im Gespräch über den Farbfilm. Kontaminierte Bilder. Alle sind kontaminiert; die jungen Künstler, aber auch der Film, der sich endgültig neue Territorien erobert: Oper, King Lear, Kunst- und Musikfilm. Er greift die anderen Künste auf ihrem Terrain an; und insgeheim weiss jeder, dass der Film Sieger bleibt. Totgesagt expandiert er, in einer Bewegung der Ungleichzeitigkeit. Es ist, als ob die Produktionsmaschinerie noch einmal heiss laufen würde. Verzweiflung oder unaufhaltsame Logik einer kapitalistischen Industrie, die sich imperialistisch ausdehnt? „Im Film sind die Kunstwerke noch in beständiger Bewegung, sie werden und entwickeln sich; der Mythos ewiger Jugend kann aufrecht erhalten werden“, schreibt Matthias Vogel in seinem Aufsatz über neue Künstlerfilme, um dann anzufügen: „Der Prozess der Kunstwerke, so wird gesagt, kommt nämlich erst im Anschauen in Gang. Ein Vorgang, dessen zeitliche Limite der Anschauende setzt [...] So gesehen, versetzt das cinematographische Erfassen von Kunstwerken der Erlebnisfähigkeit des Menschen am Ende des 20. Jahrhunderts einen weiteren kräftigen Stoss.“ Die Kunst ringt um ihren Anspruch. Ausstellungen werden als Gesamtkunstwerke konzipiert, die Verpackung triumphiert über das einzelne Werk. Während die anderen Künste längst ihre Legitimation hinterfragen und misstrauisch, masochistisch, selbstzerstörerisch ihr Aufgehen in der Kulturgesellschaft konstatieren, scheint der Film ungerührt vor sich hin zu leben. Er feiert sich selbst als Ereignis, als ob ihn die Diskussion über Simulation und Unverbindlichkeit gar nichts anginge. Oder hat man den Film schon aufgegeben? Nicht einmal hundertjährig, scheint der Film ohne Zukunft. Die Rettungsversuche eines Mythos erweisen sich als Expeditionen, der Tod als deren Begleiter. Ein aufgeblasener Spektakelbetrieb versucht uns vorzumachen, der Film erfülle wie einst eine gesellschaftliche Funktion. Die Beschwörung der Orakel von Sam Füller und anderen - „Gefühle, Gefühle und nochmals Gefühle“ - gerät zur PR-Leerformel. Doch was kann man von einer Kunst erwarten, die, wie Godard sagt, nur die Gegenwart kennt? Der Rettungskolonne angeschlossen hat sich auch die Kulturbürokratie des Staates, einer filmischen Gesetzmässigkeit auf der Spur, die sie im Narrativen vermutet. „Subventionen für eine gute Story“ heisst die Formel. Doch längst hat der Zuschauer die herkömmliche Erzähltechnik gesprengt. Zu Hause, vor dem Bildschirm zapt er sich seinen eigenen Roman. Und die Dreiminutengeschichten der Clips leben von Zufällen. Sieh mal einer an! Statt in einem primitiven Glaubenskrieg das Drehbuch und die „gute Story“ gegen den Autorenfilm oder den „Schweizer Film“ auszuspielen, könnte man sich fragen, wie denn der Vormarsch der amerikanischen Drehbuchkultur in Europa zu erklären sei. Exponenten der europäischen Filmtradition, Eisenstein, Bunuel, Rossellini, Godard, Resnais haben sich immer wieder überlegt, wie narrative Strukturen aufgebrochen werden können. Sie haben grosse Filme ohne grosse Stories gemacht, weil sie andere erzählerische Mittel verwendet haben. Dass ausgerechnet bei Jim Jarmusch, einem der innovativsten, bei Publikum und Kritik gleichermassen anerkannten amerikanischen Filmer, das Drehbuch eine untergeordnete Rolle spielt, wäre auch eine Überlegung wert. Ein neueres Phänomen, der Boom afrikanischer Filme, erklärt sich sicher einmal aus der Sehnsucht nach Authentizität und Exotik. Vielleicht aber sind die Zuschauer auch von einer Filmsprache fasziniert, welche die lineare Narration nicht kennt und elliptisch erzählt, mit einem anderen Gebrauch der Zeit. An all dies dachten wir, als wir das 89er Thema von CINEMA festlegten. Wir wollten Nachbarschaften aufzeigen, neue Grenzen ziehen, Fragen stellen. Immer im Wissen, dass der Film eine Kunst ist, ja, aber mit eigenen Gesetzmässigkeiten. Die erste industrielle Kunst. Die Geschichte dieser industriellen Kunst ist eine Geschichte des Überlebens, des Produzieren-Dürfens. Ausbrüche aus der Generallinie sind erlaubt. Aber es ist nützlich, einen Fuss im System zu haben. Überleben kann nur, wer sich in den Zwängen eingerichtet hat. Der Film ist die einzige Kunst, deren Utopien nicht geborgen werden. Oder ist der Video-Clip das real gewordene Kinoauge? Müssen wir Vertov wecken und im Grab stören? Nein. Statt dem Kinozug haben wir das Kinotram, dessen Fahrgast über das aktuelle Programmangebot der Säle informiert wird. Film und die Künste. Am liebsten würden wir formulieren, was denn der Begriff „filmisch“ heute bedeutet. Damit soll nicht eine „Reinheit“ propagiert werden, eine Cinephilie, die sich elitär von Alltagskultur abhebt. Pioniere wie Marker, Rohmer oder Godard haben gezeigt, dass die Arbeit mit Bildern und Tönen auch im Fernsehen konsequent weitergehen kann, wenn es sein muss. Wir sind uns bewusst, dass sich auch das Schreiben über Film verändert hat. Der distanzierte, unbefangene Beobachter hat oft mehr zu sagen, als der professionelle Kritiker. Film und die Künste heisst auch, Türen aufzureissen, interdisziplinäre Blickwinkel fruchtbar einzubringen: Ansätze zu einer neuen Filmgeschichte werden sichtbar, Kräfte erhalten einen Namen, Wechselwirkungen werden aufgezeigt. CINEMA 35 setzt die Arbeit fort, die wir im letzten Heft begonnen haben, an einer Filmgeschichte, die gerade erst im Entstehen begriffen ist. Paradoxerweise gibt mit dem Kunstanspruch der Film auch Terrain auf, sein ureigenes Terrain der Emotionalität, des Unberechenbaren, des „Filmischen“. Dadurch ebnet er einer technologieorientierten, synthetischen Filmsprache, der Maschinerie den Weg. Für die Redaktion Miklós Gimes

CINEMA #35
FILM UND DIE KÜNSTE
EDITORIAL
ESSAY
SELECTION CINEMA
LE PETIT GARÇON QUI VOLA LA LUNE (GISELE ANSORGE, ERNEST ANSORGE)