CAROLA FISCHER

WAS GEHT MICH DER FRÜHLING AN (HEINZ BÜTLER)

SELECTION CINEMA

Das Leben der Alten und Hoffnungslosen, das Warten auf den Tod war ein beliebtes Sujet der Schweizer Dokumentarfilmer im letzten Jahr. Mag man nicht unbedingt eine Lust am Morbiden bei den Filmern voraussetzen, so liegt eine mögliche Erklärung für dieses Interesse darin, dass das Sterben und Kranksein in unserer Gesellschaft ausgegliedert ist, die Betroffenen in gesonderte Institutionen abgeschoben werden. Die Dokumentarfilmer bieten sich als Mittler an, gehen zu diesen Menschen, sprechen mit ihnen und kommen mit Bildern aus diesen Welten zurück, die für uns oft genauso exotisch sind, wie ein Bericht aus Papua-Neuguinea.

Heinz Bütler ist es gelungen, die eigentlich bedrückendsten Bilder mitzubringen. Merkwürdigerweise, möchte man fast sagen, denn die Greise und Greisinnen m seinem Film (sie sind fast durchweg alle über 80 Jahre alt, zwei Damen sogar 100) haben alle eine unheimlich starke Ausstrahlung. Sie sind Überlebende des Holocaust, stammen aus den Gebieten der ehemaligen österreichisch-ungarischen Monarchie und leben heute im Elternheim der israelitischen Kultusgemeinde in Wien. Wie Bütler es im Vorwort seines Buchs zum Film formuliert: „Das Heim, ein einzigartiger Treffpunkt Überlebender einer Welt, die mit ihnen untergehen wird.“ Dieses Heim ist ein trostlos steriler Ort wie viele seiner Art. Blitzblank gewienerte Gänge, phantasielos möblierte Gemeinschaftsräume; einzig in den Räumen, die die Bewohner mit eigenen Möbeln einrichten dürfen, etwas Gemütlichkeit. Allerdings ist die Kamera äusserst zurückhaltend im Registrieren der Räume, als Zuschauer bekommt man immer nur winzige Ausschnitte zu sehen. Die wenigen Totalen beschränken sich auf die Gänge oder auf Aussenansichten, wie den Friedhof etwa. Meistens bleibt die Kamera nahe an den Personen, verweilt auf den Gesichtern. Durch die Inszenierung der Gesprächssituation und durch den Bildausschnitt wird eine Wirkung erzielt, welche die Einsamkeit und Verlorenheit der Protagonisten unterstreicht.

Was die Kamera aber auch zeigt, ist die Schönheit dieser Menschen. Sie hegt im Ausdruck, in den Augen, in der erstaunlichen Wachheit des Geistes, die sie sich durchweg alle bewahrt haben. Sie erzählen von ihren Verlusten (sie alle haben Familienangehörige in den Konzentrationslagern Hitlers verloren), von ihrer Trauer, ihrem Heimweh, von der Sinnlosigkeit ihrer augenblicklichen Existenz, ihrer Todessehnsucht, sie mögen es mit Bitterkeit, Verzweiflung, Resignation oder ihrem unverwüstlichen jüdischen Humor tun, das Gemeinsame ist ihre ungeheure sprachliche Ausdrucksfähigkeit. Keine Spur von Senilitat, da ist eine Präzision und Genauigkeit in der Wortwahl, der Aussprache, dass es ein ästhetischer Genuss ist, ihnen zuzuhören. “In den letzten Monaten ist eigentlich nichts passiert, überhaupt nichts. Ich habe ja keine Betätigung, aber ich bin trotzdem Millionär, nämlich Zeitmillionär.“ Oder: “Wenn der Mensch jung ist, bis sagen wir fünfzig, träumt er noch wegen der Zukunft. Dann kommt leider die Gegenwart und dann kommt schon nichts. Und in der deutschen Sprache gibt es Gegenwart, Vergangenheit, Zukunft und Vorvergangenheit. Und diese Vorvergangenheit bin ich.“

Diese Menschen leben in ihrer Vergangenheit, in ihren Erinnerungen. Dennoch erfahren wir als Zuschauer nur Bruchstücke. Man wäre so neugierig, mehr über ihr Leben zu hören. Mögen sie nicht mehr erzählen, wäre es zu schmerzhaft, oder ist es der Autor, der sie in dieser Zurückhaltung belassen will? Als Zuschauer wird man das Gefühl nicht los, da ist ein unendlicher Schatz von Geschichten, nicht nur der Horror der Hitlerzeit - da ist ja auch eine Kraft, die sie hat überleben lassen. Einzig in den Gesprächen mit der 90jahrigen Kay Siemons, die so unglaublich charmant und vital wirkt, klingen solch positive Lebenserfahrungen an. In den meisten Momenten des Films ist es, als ob die Kamera und die suggestiven, lähmenden Fragen des Autors die Menschen geradezu festnageln würden, als ob er die Depression suchen würde. Auf diese Weise wird der Film tatsächlich zu einem Manifest, dass das Leben in solchen Anstalten eigentlich kein Leben mehr ist.

Mir ging nach dem Film die Frage im Kopf herum, ob es der Faschismus mit all seiner Grausamkeit war, der diese Leben zerstört hat, oder ob erst die Institution Altersheim mit ihrer lieblosen tödlichen Routine den Lebenswillen dieser Menschen zerbrochen hat?

Carola Fischer
geb. 1949, cinephile Germanistin, arbeitet in der Dokumentation „Wort“ des Schweizer Fernsehens DRS.
(Stand: 2019)
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