CAROLA FISCHER

ICH KAM VON EINEM ORT, DEN ES NICHT GIBT (KRISTINA KONRAD)

SELECTION CINEMA

„Im Exil leben, heisst am Rande leben“, „Ich bin nicht von hier und nicht von dort“, „Ich kam von einem Ort, den es nicht gibt“. Das sind Aussagen von Frauen, die in dem Dokumentarfilm von Kristina Konrad über ihr Exil und ihre Rückkehr in die Heimat sprechen. Ausgangspunkt für diesen Film ist nicht zuletzt die Situation der Autorin selbst, die die Schweiz vor einigen Jahren verlassen hat, um in Lateinamerika in einem „freiwilligen“ Exil zu leben. Ihre Interviewpartnerinnen hingegen mussten ihre Heimat, Uruguay, verlassen, als dort das Militär 1973 die Macht ergriff und alle demokratischen und linken Kräfte einer blutigen Repression unterwarf. Die vier Frauen und ihre Angehörigen, die in dem Film zu Wort kommen, haben über zehn Jahre ihres Lebens im Exil verbracht. Ihre Erfahrungen, die sie in der Fremde gemacht haben, gleichen sich, mag ihr Exilland Frankreich, Spanien, Mexiko oder die Schweiz gewesen sein: das Gefühl, nicht an dem Ort zu leben, wo man seine Wurzeln, wo man seine Familie hat, wo man hingehört. Selbst diejenigen, die sich scheinbar gut integrieren konnten, empfanden diesen Aufenthalt in einem anderen Land als eine Zeit des Wartens. Das Gewicht der Erinnerungen an Orte, Stimmungen, Gerüche, Geräusche, das nie leichter werden wollte. Dieses Ausgerichtetsein auf eine Rückkehr, die das Leben in der Gegenwart verunmöglicht. Die Frauen erzählen auch über den Moment der Rückkehr, über das Ausbleiben des Freudentaumels bei der Ankunft. Wie in ihnen die Erkenntnis wächst, dass auch das „Sich-Wie- der-Einleben“ in der Heimat ein Prozess ist, der Zeit braucht, dass die Vorgefundene Realität eine andere ist als die Bilder der Erinnerung.

Die Offenheit und Ehrlichkeit, mit der sich diese Frauen und ihre Partner vor der Kamera äussern, ist die Stärke dieses Films. Hier werden nicht Menschen von einer Journalistin ausgefragt, vielmehr spürt man das gemeinsame Bemühen der Frau hinter der Kamera und ihrer Gesprächspartner, eine Lebenserfahrung zu beschreiben, die sie teilen. Mit ihrer Kamera unternimmt es die Autorin, diese Gefühle in Bilder umzusetzen. In assoziativ verknüpften Momentaufnahmen beschreibt sie die Orte, von denen gesprochen wird, den „Stoff“, aus dem die Erinnerungen sind.

In einer Epoche, da weltweit Millionen von Menschen gezwungen sind, ihre Heimat zu verlassen, um irgendwo auf der Welt unter völlig fremden kulturellen Bedingungen zu leben, leistet dieser Film einen wichtigen Beitrag zum Verständnis dieser existentiellen Extremsituation. Gerade weil der Film so persönlich ist, so ohne ideologische Verallgemeinerungen daherkommt, ermöglicht er dem Zuschauer eine eigene Reflexion und Auseinandersetzung mit dem, was er Heimat nennt.

Nicht zuletzt, darf man sich als Frau darüber freuen, dass in diesem Film Frauen das Wort ergreifen, die mutig und selbstkritisch über ihr Selbstverständnis als Frau nachdenken und bereit sind, trotz des in ihrem Land herrschenden Machismo das Rollenverhalten in ihren Beziehungen zur Diskussion stellen, ohne deswegen jedoch die Anziehungskraft ihre latin lovers abzuleugnen.

Carola Fischer
geb. 1949, cinephile Germanistin, arbeitet in der Dokumentation „Wort“ des Schweizer Fernsehens DRS.
(Stand: 2019)
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