CAROLA FISCHER

GEORGETTE MEUNIER (TANJA STÖCKLIN, CYRILLE REY-COQUAIS)

SELECTION CINEMA

Der Vorspann beginnt wie ein Heimatfilm. In einer schneebedeckten Berglandschaft spielen ein Junge und ein Mädchen, beide etwa acht Jahre alt, miteinander Fangen. Sie setzen sich in den Schnee, als wär’s eine Blumenwiese, die Arme einander über die Schulter gelehnt, die Köpfe dicht beeinander: das Geschwisterpaar Georgette und Emile. Selbst Abkömmlinge einer inzestuösen Beziehung, ist ihr Schicksal bereits vorgezeichnet, sind sie schon im Kindesalter in unauflöslicher Liebe verbunden.

Diese Liebe wird in der ersten Szene des Films von den mittlerweile herangewachsenen Jugendlichen denn auch ohne Scham im Bett von Georgette vollzogen. Ihr Glück ist jedoch nicht von Dauer. Sie werden durch elterlichen Ratschluss getrennt. Emile wird zu einer militärischen Ausbildung ins Ausland geschickt, Georgette muss sich der Zucht eines klösterlichen Internats unterwerfen. Lange muss sie es dort nicht aushalten. Der Befreier tritt auf in Gestalt des heiratswilligen Apothekers Meunier. In dieser Ehe findet Georgette zwar keine Liebe, wohl aber die Möglichkeit nützliche Kenntnisse in der Pharmazie zu erwerben.

Ein Zufall verhilft Georgette alsdann, sich dieses ungeliebten Ehemannes bald zu entledigen. Ob und wie weit sie diesem Zufall nachgeholfen hat, mag der Zuschauer im Kino nicht so recht beurteilen, wohl aber das bürgerliche Gericht, das sie trotz Unschuldsbeteuerungen zu einer Gefängnisstrafe für Gattenmord verurteilt. Allzu viele Zeugen aus der Nachbarschaft wissen von ehelichen Streitigkeiten zu berichten. Im Gefängnis trifft Georgette die Gattenmörderin Esmeralda laNotta, die unbekümmert die Devise vertritt: „Manchmal muss man einfach morden“ - C’est une Française! -, „da es gibt allzuviele Männer, dass man vor lauter Männer, den Mann nicht mehr (nischt mär) sieht.“ Die unglückselige Esmeralda wird das Opfer des lüsternen jungen Gefängniswärters Louis, der sie beim Versuch, sie zu vergewaltigen, umbringt. Georgette verspricht der sterbenden Freundin, sie zu rächen.

Wegen guter Führung schon bald darauf aus dem Gefängnis entlassen, nimmt sich Georgette eine Wohnung und findet eine Stelle in einer Apotheke. So kann sie sich bald ein véritables Giftlabor einrichten und daran gehen, ihr Versprechen einzulösen. Mit dem Mord an Louis ist der Auftakt zu dem Doppelleben gegeben, das sie fortan führen wird, oder wie es der Erzähler im Film ausdrückt: „Was ursprünglich die Erfüllung einer Bitte war, beginnt sich in Georgettes Wesen als leidenschaftliches Schicksal abzuzeichnen.“ Lebt sie des Tags wie eine arbeitsame Kleinbürgerin in tüchtiger Pflichterfüllung an ihrem Arbeitsplatz, so durchstreift sie des Nachts als männermordende Sirene die Stadt. Und mit welchem Charme sie ihre tölpelhaften Bewunderer umgarnt, und wie ungerührt sie deren Tod nach dem Liebesakt registriert! Da ihre Opfer keinerlei Vergiftungssymptome aufweisen, sondern scheinbar an Herzversagen sterben, löst dieses epidemische Anwachsen von Todesfällen bald einmal grosse Ängste in der Bevölkerung und wildes Mutmassen und Herumforschen bei der Ärzteschaft aus. Von dem öffentlichen Aufruhr bleibt Georgette ungerührt. Einzig ihre ergebnislosen Nachforschungen nach dem geliebten Bruder auf dem Einwohnermeldeamt stürzen sie in nächtliche Verzweiflung. Ist es doch diese unerfüllte inzestuöse Leidenschaft, die sie zu ihren zahl- und wahllosen Morden treibt. Längst muss sie nicht mehr Tropfen des Gifts in die Getränke ihrer Opfer mischen, dank eines von ihr entwickelten Gegengifts kann sie den eigenen Körper zur Waffe machen und die Männer zu Tode küssen.

Die Panik in der Stadt steigt, die Behörden sind zum Handeln gezwungen. Eine Kommission wird gebildet, die einen Massnahmenkatalog entwirft, der das öffentliche Leben reglementiert und die Überwachung der Bürger intensiviert. Dabei strampelt doch der schneidige Kommissar bereits selbst im Netz der schönen Georgette. Als er sie zu einer romantischen Bootsfahrt einlädt, ereilt ihn denn auch sein Schicksal.

Aber inzwischen braut sich doch Unheil über Georgette zusammen. Sie wird beobachtet und verdächtigt. Da sie die Bedrohung spürt, versteckt sie ihr Labor und wandert ziellos durch die Strassen. In diesem Moment der Unruhe und Angst, begegnet ihr ein Mann auf einer Brücke. Es ist der so lange verschollene Bruder Emile. Doch welch grausame Ironie des Schicksals; darf sie doch den heissgeliebten Mann nicht küssen! So gesteht sie ihm alles. Doch der Bruder war nicht umsonst Soldat: „Auch ich habe gemordet, geplündert und vergewaltigt.“ Solcherart ebenbürtig, steht der Wiedervereinigung der beiden nur noch die Applikation des Gegengifts im Weg. Wieder ist ihnen das Schicksal nicht hold. Da ist kein Gegengift mehr: das Haus, wo Georgette gewohnt hat, steht in Flammen, entzündet vom wütenden Pöbel, nachdem die Polizei bei einer Hausdurchsuchung die Giftmischerin entlarvt hat. So bleibt den beiden unglücklich Liebenden nur die Flucht. Das dafür nötige Geld will der Bruder besorgen, während Georgette auf ihn wartet. Emile wird jedoch als Deserteur erkannt und auf der Flucht erschossen.

Sieben Tage wartet Georgette im Zimmer der Pension ihres Bruders. Als auch ihre Suche nach ihm vergeblich ist, wirft sie sich vor einen Zug.

Und wer jetzt die Chance für ein Happy End unwiederbringlich geschwunden sieht, wird aufs Angenehmste überrascht: Da ist wieder die Schneelandschaft vom ersten Bild. Und hier treffen sich die beiden, und weil sie ja bereits gestorben sind, kann ihnen nichts mehr passieren. Das Glück kommt nach dem Tod, nicht wie der Junge anfangs in seiner Geschichte erzählt hatte, der Tod nach dem Glück.

Diese unsägliche, total abgehobene Geschichte, die einem Roman von Hedwig Courths-Mahler in nichts nachsteht, ist ein schaurig schöner Film geworden. In ruhigem Rhythmus geschnitten, in warmen Farben und schönen Einstellungen gefilmt. Das Überzeugende an Georgette Meunier ist, dass die Stimmung und der ironische Erzählton von Anfang bis Ende durchgehalten werden. Jede Einstellung, aber auch die Sprache des Erzählers im Off ist im Hinblick auf das Ziel strukturiert: diese doppelbödige Moritat mit der gleichen Wahrhaftigkeit zu erzählen wie eine Tragödie. Die Figuren, so überzeichnet sie auch sein mögen, sind doch Abbilder von alltäglichen Menschen, sie haben die Treffsicherheit von Karikaturen: der salbadernde Gefängnisdirektor, die missgünstigen Nachbarinnen, der verklemmte ungarische Briefmarkensammler. Sorgfältig sind alle Nebenrollen besetzt, wahrlich keine Selbstverständlichkeit für den Schweizer Film. Tiziana Jelmini in der Hauptrolle ist grossartig, eine aparte Schönheit, die zu umgarnen und zu umarmen versteht.

P: DFFB. B: Tania Stöcklin, Cyrille Rey-Coquais, Felix Schnieder Henningen R: Tania Stöcklin, Cyrille Rey-Coquais. K: Ciro Cappellari, Anka Schmid. T: Margarethe Heitmüller, Chris Sugiyama. S: Tania Stöcklin. M: Nikolaus Utermöhlen. D: Tiziana Jelmini, Thomas Schunke, Dina Leipzig, Kio Cornel Hedl, Frank Kunkel, Detlef Knops, Joe Rey-Coquais, Miklös Königer u.a. W: DFFB (Berlin).

16 mm, Farbe, 75 Minuten.

Carola Fischer
geb. 1949, cinephile Germanistin, arbeitet in der Dokumentation „Wort“ des Schweizer Fernsehens DRS.
(Stand: 2019)
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