CAROLA FISCHER

BAILEY HOUSE (ALAIN KLARER)

SELECTION CINEMA

Alltag in einem Haus, in dem der Tod allgegenwärtig ist, in dem aber im Gegensatz zu einem Altersheim vorwiegend jüngere Leute leben. Alain Klarer stellt in seinem Film „Bailey House“ vor, ein ehemaliges Hotel, in dem 44 Aidskranke leben. Bailey House ist für einen Bruchteil der in der Millionenstadt New York an Aids erkrankten Menschen ein Zufluchtsort, in dem sie, von einem kompetenten Team betreut, Aufnahme finden. Leidensgenossen, vielleicht sogar Freunde im Angesicht einer Krankheit, die von der Gesellschaft stigmatisiert wird und für die meisten Betroffenen soziale Isolierung bedeutet. Menschen unterschiedlicher sozialer Herkunft treffen hier aufeinander. Den grössten Anteil bilden jedoch junge schwarze ehemals Drogenabhängige. Ihnen ist Bailey House, die letzte Station in ihrem jungen Leben, oft sogar das erste richtige Zuhause, in den meisten Fällen auch der schönste Ort, wo sie bisher gewohnt haben.

Immer noch erinnert das Interieur an ein gepflegtes Mittelklasshotel. Die Bewohner leben in Einzelzimmern, die die klassische Hotelausstattung — Bett, Tisch, TV - aufweisen. Die individuelle Gestaltung beschränkt sich auf das Aufhängen von Fotos und das Aufstellen von Nippsachen. Die Insassen leben in einer Gemeinschaft, der Umgang untereinander ist fürsorglich und liebevoll, aber dennoch ist bei den einzelnen eine grosse Einsamkeit spürbar. Vor allem ist es die Ghettoisierung, die einen als Zuschauer betroffen macht. Was so schmerzhaft zu fehlen scheint, sind die Beziehungen zu früher, zu den Familien. Bis auf den Besuch, den eine junge schwarze Patientin von ihren beiden kleinen Töchtern erhält - einer der bewegendsten Momente des Films - erscheinen kaum Personen von „draussen“ im Bailey House.

Das Erschütternde ist, dass die in der Presse bereits zum Alltag gewordene Krankheit, die wir eigentlich nur noch als Zahlen oder abstraktes Schreckgespenst wahrnehmen, in Bailey Ho use ein Gesicht erhält. Das Gesicht einer jungen Schwarzen, die erzählt, wie sie von ihrem Arzt die Diagnose erhielt. Das Gesicht des eleganten schwarzen Modezeichners, der erstaunlich gelassen von seiner

Krankheit erzählt. Das Gesicht des 52jährigen weissen Lagerarbeiters, der angesichts seiner Erkrankung zu einer abgeklärten Weitsicht gefunden hat, die er in beeindruckend einfache Sätze zu kleiden weiss. Jeder einzelne ein Mensch mit einer Geschichte, mit Träumen und Hoffnungen, getroffen von einer Krankheit, die in unserer hochzivilisierten Kultur einer mittelalterlichen Verdammnis gleichkommt.

Für den Zuschauer wird damit wenigstens zu einem Bruchteil die Spannung nachvollziehbar, in der in Bailey House gelebt wird. Für alle, seien sie Patienten oder Mitglieder des Teams, bedeutet der Alltag in Bailey House das Zusammenleben mit Menschen, zu denen man eine Beziehung entwickelt, die man ins Herz schliesst, in dem ständigen Bewusstsein, dass sie jederzeit sterben können. Die Hilflosigkeit angesichts der Endgültigkeit dieser Krankheit. Und doch, selbst in dieser ständigen Bedrohung durch den nahen Tod, gibt es Alltagsrituale, werden Feste gefeiert.

Das Verdienst des Filmautors liegt in seiner Beschränkung. Er versagt sich jeden Kommentar, bleibt von Anfang bis Ende seiner Rolle als Vermittler treu. Diese Zurückhaltung macht die Stärke dieses Films aus, erlaubt sie doch dem Zuschauer einen durch eigene Reflexion geprägten Umgang mit den Bildern.

Und diese Bilder sind eindrücklich genug. Das ist meines Erachtens die künstlerische Qualität dieses Dokumentarfilms: die Unmittelbarkeit der Kamera und die Unbefangenheit, mit der die Menschen im Beisein der Kamera agieren. Nie wirkt die Kamera als Eindringling, gleich ob sie eine Krankenschwester zu einem bettlägerigen Patienten begleitet oder eine Sitzung des Betreuerteams filmt oder uns Zeugen des Mittagessens in dem alten, gediegenen Speisesaal werden lässt. Nie hat man das Gefühl, dass eine Szene gestellt ist, nie fühlt man sich in die Rolle des aufdringlichen Voyeurs gedrängt. Jeder Betroffene gibt so viel von sich preis, wie er von sich aus dazu bereit ist. Da wird auf nachhakendes Interviewen verzichtet. Dafür bewegt sich die Kamera, fängt Augenblicke ein, die mehr aussagen als tausend Worte. Die Bilder von der Weih- nachts- oder der Sylvesterfeier, die das Bemühen um Fröhlichkeit und Ausgelassenheit zeigen und die gleichzeitig die Trostlosigkeit sichtbar machen, die einem Ort anhaften muss, dessen Bewohner keine Zukunft haben, die zu einer Gegenwart des Wartens verurteilt sind, eines Wartens, an dessen Ende der unausweichliche Tod steht. Der einzig tröstliche Gedanke ist, dass die Kranken hier einen Ort gefunden haben, wo sie diesen ihren schwersten Lebensabschnitt in einer würdevollen Umgebung verbringen können.

Die suggestiv schönen Bilder von Pio Corradis Kamera beschönigen nicht. Sie konfrontieren uns mit einem Teil unserer gesellschaftlichen Wirklichkeit, der von uns allen weitgehend verdrängt wird. In diesem Sinn ist dieser Dokumentarfilm ein wichtiges Zeitdokument, dem man möglichst viele Zuschauer wünschen möchte.

Carola Fischer
geb. 1949, cinephile Germanistin, arbeitet in der Dokumentation „Wort“ des Schweizer Fernsehens DRS.
(Stand: 2019)
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