CAROLA FISCHER

DER NEAPEL-FRIES (GAUDENZ MEILI)

SELECTION CINEMA

Unter den vielen Künstlerporträts, die in diesem Jahr in der Schweiz produziert wurden, ragt eines heraus: Eine Werkschau besonderer Art bietet Meilis Film über den Berner Künstler Markus Raetz, wohl die kreativste Auseinandersetzung mit dem Werk eines Künstlers, die an den Solothurner Filmtagen zu sehen war. Das Enträtseln moderner Kunst ist nicht jedermanns Sache. Oft genug fehlt Geduld und Kenntnis, aber auch Lust, sich mit solchen Werken zu beschäftigen. Meistens kommt man als Laie über das Registrieren der augenfälligen Ästhetik nicht hinaus, findet es „irgendwie“ noch hübsch oder faszinierend, aber bar jeglicher nachvollziehbarer Sinngebung. Genau an diesem Punkt setzt Meili mit seinem Film an. Er nimmt den Zuschauer mit auf eine Reise durch die Bilder- und Gedankenwelt von Markus Raetz, ausgehend von dessen Werk „Der Neapel-Fries“. Die Kamera wird zum verlängerten Auge des Kunstbetrachters. Wie von Geisterhand bewegt fügen sich Teile zu sinnvollen Ganzheiten, wird in einer assoziativen Bildfolge der Gehalt einer abstrakten Form rekonstruiert. Durch den Rückgriff auf frühere Werke enthüllt sich so gleichsam der Sinn eines Dreiecks, einer Schlangenlinie. Das Phallische eines Motorrads wird blossgelegt, indem die Kamera nachvollzieht, wie Raetz eine Abbildung schrittweise auf ihre Hauptlinien reduziert. So kann sich der Zuschauer ein Bild machen von der Arbeitsweise und von den Absichten des Künstlers. Er kann Abstraktion als Verdichtung begreifen lernen. Was auf den ersten Blick wie willkürlich hingeworfenes Gekrakel wirkt, kann er als Chiffre für eine auf das Wesentliche reduzierte Form deuten.

Was die Kamera an visuellen Bezügen zu leisten vermag, wird von der Tonspur in geradezu idealer Weise ergänzt. Sie liefert weitere Interpretationshilfen, indem sie Aussagen und Reflexionen des Künstlers und Kommentare zu seinen Bildern wie Gedichte montiert. Das Ganze wird als eine Art Sprechgesang von mehreren Frauen- und Männerstimmen intoniert. Der Sprachduktus, dieses Auf- und Abschwellen der Stimmen, die Wiederholungen, der spielerische Umgang mit der Sprache überhaupt, erinnert sicher nicht zufällig an Gedichte des Schriftstellers Ernst Jandl: „Das eine tuten und das andere nicht blasen.“ Die Sprache wird mit den gleichen Techniken, wie das Umformen, das Auslassen und Betonen einzelner Buchstaben auf ihre Aussagekraft hin befragt. Witzige Sprachspiele begleiten die Aktzeichnung auf ihrem Weg von der prallen Körperlichkeit bis hin zu einer einzigen klaren Lime: „Dessins géometriques - des seins géometriques Die Symbolik in Bild und Sprache unseres Alltags wird in diesem Film auf neue Art sicht- und hörbar gemacht.

Dieser Film ist witzig, unterhaltend und lehrreich; eine Schule des Sehens. Er ist eine kongeniale Verbindung zweier Kunstformen. Gerade weil Meili seinen Film ganz in den Dienst eines anderen Künstlers stellt, gelingt ihm selbst ein Kunstwerk. Ein Film nämlich, der durch den Einsatz aller technischen Möglichkeiten, vor allem der Montage, den sinnlichen Akt der Wahrnehmung eines Kunstwerkes nachvollzieht. Für den Zuschauer ein doppelter Genuss: lernt er doch einen Künstler kennen, und kann sich an der Art und Weise erfreuen, wie ihn Meili an dessen Kunst heranführt. In seiner Dichtheit und assoziativen Bildkraft ist dieser Film fast psychedelisch; ein Trip für Kunstliebhaber und solche, die es werden wollen.

Carola Fischer
geb. 1949, cinephile Germanistin, arbeitet in der Dokumentation „Wort“ des Schweizer Fernsehens DRS.
(Stand: 2019)
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