PAUL AVONDET / JANN JENATSCH / RUDOLF MANZ

DAS RÄUMLICHE IM FILM — ARCHITEKTUR IM FILM

ESSAY

In der Architektur geht es um Raum. Hier ist Raum nicht einfach der stereometrische Inhalt eines Volumens, das Hohle eines Gefässes, sondern das durchgehende Beziehungssystem von „voll und hohl“. Gemeint ist die Verschachtelung, Durchschichtung, Verklammerung vieler ineinandergreifender Zonen, wie innen-aussen, oben-unten, hinten-vorn. Die Erfassung von architektonischem Raum verlangt den Einbezug verschiedener räumlicher Lagen. Das ist nur per Bewegung möglich, eigener und fremder Bewegungen aller Art. Kennzeichnend für Bewegung ist, dass Gegenstände und Körper ihre gegenseitige Lage im Raum verändern, und dass dazu Zeit erforderlich ist. Bewegung macht Raum und Zeit überhaupt erfahrbar, produziert gewissermassen Raum und Zeit.

Ein Paradebeispiel für ein solches Wahrnehmungsgeschehen von Raum und Zeit ist der Eiffelturm. Mit ihm in der Hauptrolle hat René Clair in Paris qui dort das Kino, wie er sagt, auf seine Ursprünge zurückgeführt und die wahren Mittel der Kamera zum Einsatz gebracht. Indem er das „Raum-Zeit“- Potential des Eiffelturms vollständig ausnützt, führt er uns am Bewegungsspiel einer Verfolgungsjagd die Möglichkeiten des bewegten Bildes exemplarisch vor Augen.

Die gemeinsamen Interessen an Bewegung, Raum und Zeit bewirken zwangsläufig thematische Schnittpunkte zwischen Architektur und Film. Architektur, der architektonische Raum ist ein Thema des Films.

Räumliche Tiefe des zweidimensionalen Bildes

Architektonischer Raum wird gebildet durch das bauliche Zusammenspiel von Körpern und Volumen. Er beruht auf der Volumetrie von „voll und hohl“, dem komplementären Ineinandergreifen von Positiv und Negativ, vergleichbar mit dem dialogischen Verhältnis von Figur und Grund. Die Beziehungen der raumbildenden Teile sind einerseits objektiver Art, also messbar und festgelegt, andererseits subjektiver Art, d.h. abhängig vom Betrachter. Die Raumwahrnehmung ist bedingt durch seinen Standort und geprägt von seinen Wahrnehmungsfähigkeiten. Damit verbunden sind Blickrichtung und Blickwinkel, aber auch Sehbereitschaft und Assoziationsvermögen.

Die Wahrnehmungsbestandteile werden in unserem Sehfeld räumlich koordiniert. Die Abbildung der dreidimensionalen Wirklichkeit auf einer zweidimensionalen Bildfläche, wie auch auf der Netzhaut, beruht auf optischen Täuschungen. Durch unsere Seherfahrung sind wir fähig, das zweidimensionale Bild räumlich zu entziffern, innen-aussen, oben-unten, hinten- vorn zu differenzieren und die Tiefendisposition mit Hilfe von Bildperspektive, Grössenverhältnissen und Schärferelationen abzulesen. Eine wesentliche Erleichterung der Tiefenwahrnehmung entsteht durch Bewegung - und der Film, mit seinen Möglichkeiten des bewegten Bildes, kann Bewegung darstellen.

Wie lang ist der Korridor in Jacques Tatis Play time? Schauen wir, wie lange es geht, bis jemand von ganz hinten die Strecke bis zu uns zurückgelegt hat. Seine Geschwindigkeit kennen wir, wir hören seine raschen Schritte, er wird langsam grösser, erhält Umrisse. Oh là là, es ist noch weit, es geht noch lange, der Portier macht es uns deutlich. Jetzt ist er da, Begrüssung, wir kennen ihn nicht, es spielt keine Rolle, aber jetzt kennen wir die Länge des Ganges. Und die räumliche Tiefe des andern Bildes? Die zirkulierenden Leute und vorbeifahrenden Autos werden es uns erläutern.

Spiegelungen von Raumausdruck und Raumeindruck

Die Qualitäten des Raumes und die Wahrnehmungsfähigkeiten des Betrachters stehen in einem Spannungsverhältnis zueinander. Sie erzeugen ein dynamisches Hin und Her zwischen der subjektiven Verfassung des Wahrnehmenden und den objektiven Zuständen des Raumes. Ihre gegenseitigen Einflüsse und Abhängigkeiten bewirken ein Wechselspiel zwischen Raumausdruck und Raumeindruck.

Jeder architektonische Raum lässt sich charakterisieren durch seine Grösse, Form, Materialität und Oberflächenbeschaffenheit, durch seine Farbgebungen und Lichtverhältnisse, aber auch durch seine Akustik und seine Geräusche. Der Raumbenützer befindet sich in einer persönlichen inneren Verfassung. Sie bestimmt seine Wahrnehmung und beeinflusst seinen Dialog mit dem Raum. Mit den Gestaltungsmitteln des Films kann dieser Dialog inszeniert und erlebbar gemacht werden.

Wie kann der Film Raumausdruck erfassen und Raumeindruck vermitteln? Die Kamera ist nicht wie wir auf die Augenhöhe und die Schwerkraft angewiesen. Sie ist frei, sie verfügt unbehindert über beliebige Bilder des Raumes. Sie kann Raum in ein eignes Licht stellen, in das Licht, das sie will. Und sie kann Bilder zeigen der inneren Welt der Menschen, ihre Gedanken und Gefühle, ihre eigenen Innenräume. Die Kamera kann vorhandene Stimmungen übernehmen oder selber erzeugen. Sie ist Stimmungszeiger und Stimmungsmacher zugleich.

In La decade prodigieuse lässt Chabrol die gestörte Wahrnehmung des ins Bewusstsein zurückkehrenden Charles sichtbar werden. In der Grenzzone zwischen objektiver und subjektiver Darstellung des Raumes wird der Vorgang der physischen und psychischen Zurechtfindung dramatisiert und ins Bild gesetzt. Mit tiefer Kamera und stark verkanteten Bildern sehen wir das Spiel der Spiegelungen von Raumausdruck und Raumeindruck.

Raum, Bildbewegung-Bildmontage

Zum visuellen Erfassen von Raum sind viele Standorte, viele Blickrichtungen und Blickwinkel notwendig. Erforderlich ist Bewegung. Der Raumbetrachter erlebt Raum immer dynamisch: Unwillkürlich macht er Gebrauch von seinen Möglichkeiten, sich zu bewegen - er bewegt die Augen, dreht den Kopf, er durchschreitet den Raum. Dadurch kann er den Raum als Bewegungsraum erfassen und in seinen Dimensionen begreifen. Er stellt fest, wie weit sein Blick reicht und wo sein Bewegungsraum begrenzt ist, oder er verfolgt, wie eine Person den Bewegungsraum durchschreitet.

Doch wie geschieht das eigentlich? Wie bewegen wir uns im Raum? Was und wieviel sehen wir? Was sehen wir zuerst? Was nachher? Was wieder? Was genau? Was nicht?

Die Dynamik der Raumwahrnehmung, das prozesshafte Erkennen, Ermessen und Erfahren von Raum beruht auf der pausenlosen Verarbeitung unzähliger Bildmitteilungen der inneren und der äusseren Welt. Durch ihren perzeptioneilen und apperzeptionellen Zusammenbau können wir den Raum ganzheitlich überschauen und verstehen.

Durch die Montage von Eindrücken und Erinnerungen entsteht ein zusammenhängender Wahrnehmungsvorgang. Es entsteht eine Reihe von Bildern und Gedankenbildern, von längeren und kürzeren Bildsequenzen und Bildausschnitten, die zusammen ein geschlossenes Wahrnehmungsganzes erzeugen.

In Godards Vivre sa vie betritt Nana S. den Raum, wir sehen den Eingang, den Plattenspieler, den Boden, sein Muster. Sie schaut nach rechts, geht nach links, Säule, Wand, Verbindung zum Nebenraum, Billardtisch, ein Billardspieler. Geht diagonal hinüber zu den beiden Männern - schon kennen wir den Raum. Wirklich? Der Titel der Szene? „Nana fragt sich, ob sie glücklich sei.“ Godard antwortet - objektiv und subjektiv - in Form eines unübertrefflichen Dreiminutenporträts des tanzenden Raumes mit Anna Karina.

Film in der Architektur

Das Kino lebt von der Unterbrechung der natürlichen Konstanz von Raum und Zeit durch die Montage. Der Schnitt kann Raum und Zeit zusammenpressen oder dehnen und kann so ihre Erlebbarkeit verstärken. Das filmische Auge mit seinem fragmentierten Blick ist von uns längst verinnerlicht worden, ist bereits ein fester Teil unserer Perzeption. Das gegenwärtige Hauptthema der Architektur ist die Stadt - und die Wahrnehmung der Stadt erfordert eine dem Film analoge Sehweise. Die Grossstadt - zusammengesetzt aus unzähligen raumwirksamen Elementen, vom Verkehr und der Versorgung, bis zu den vielen Formen des Zusammenlebens - wird von uns in Sequenzen und Schnitten erfasst und erlebt. Verständlich und erfreulich daher, dass immer mehr Architekten eine filmische Optik und Interpretationsweise entwickeln und Stadtszenarien entwerfen, die wie Film von der Bewegung her veranlagt und empfunden sind.

Mit ihrem Interesse an der Bewegung und ihrer filmischen Sicht auf das Wirkungsgeschehen der Stadt, entschlüpft die Architektur ihrer bisherigen Gebundenheit an das Statische. Ihr Thema ist die Dynamik der Wahrnehmung und die Dynamik der Grossstadt. Sie akzeptiert Widersprüche, erzeugt sie sogar - in ihnen liegt Spannung, Antrieb für Bewegung. Ihre Ziele sind nicht Komposition, sondern Kombination, sind Dekomposition und Rekomposition. Ihr Instrumentarium ist die Kamera, ihre Mittel — im eigentlichen wie im übertragenen Sinn - sind Schnitte und Montagen, ihre Sprache ist der Film. Und der Architekt? Er ist der „Mann mit der Kamera“.

Das Bürohaus in Rotterdam von Rem Koolhaas. (Die Bilder stammen aus einem holländischen Fernsehfilm über Koolhaas.) Die Darstellung von vier Seiten, wie das bisher in der Architektur üblich war, reicht bei weitem nicht aus. Notwendig sind vierundzwanzig - vierundzwanzig frames, das ist eine Sekunde. Film, der filmische Raum ist ein Thema der Architektur.

Paul Avondet
geb. 1962, Videomacher, Mitarbeiter im Fach „Raumerfassung und Raumdarstellung mit Video“ an der ETH Zürich.
(Stand: 2019)
Jann Jenatsch
geb. 1962, Videomacher, Mitarbeiter im Fach „Raumerfassung und Raumdarstellung mit Video“ an der ETH Zürich.
(Stand: 2019)
Rudolf Manz
geb. 1932, Architekt, Dozent an der ETH Zürich für das Fach „Raumerfassung und Raumdarstellung mit Video“ an der Abteilung für Architektur.
(Stand: 2019)
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