ALFRED MESSERLI

VERSUCH ÜBER DEN TIERFILM

ESSAY

Auf das Gesuch des Verleihers Monopol Pathé hin, Kinder zu den Filmvorführungen von Li Ours zuzulassen, setzte die zuständige Behörde des Kantons Zürich die Altersgrenze auf sechs Jahre herunter. In der Diskussion, die darauf anhub, wurde die Frage verhandelt, ob der Film Kindern ab dem sechsten Altersjahr zugemutet werden könne. Die Schüler der 6. Klasse aus Langnau fanden den Film gar nicht so brutal: „Zum Teil war es sogar ein bisschen langweilig. [...] Wenn ein Tier ein anderes Tier jagt, ist es ja natürlich, denn Bären können doch nicht einfach um die Ecke in ein Einkaufszentrum gehen sich ein Stück Fleisch kaufen.“ (Lages-Anzeiger, 21. Nov. 1988, S. 15)

Im Vergleich dazu war der Zugang Erwachsener zu diesem Film problematischer. Die Anwesenheit von Kindern schafft eine neue Realität der Wahrnehmung: „Ich selbst empfinde durch die Anwesenheit des Kindes die ganze Zeit eine Art Bedrohung, eine Kriegsstimmung, etwas Endzeitliches, das einfach nicht gut ausgehen kann.“ (ebd.)

Was aber ist der Fall? Nach Jean-Jacques Annaud, dem Regisseur, lässt sich das Ganze in vier Sätzen sagen: „Un ourson orphelin, un grand ours solitaire, deux chasseurs dans la foret, le point de vue des animaux.“ (Pressedossier zu L’Ours, S. 18-19) In diesen Ellipsen zeigt sich die Wortkargheit des Filmes, von der noch zu sprechen ist.

Der letzte der vier Punkte ist allgemein verstanden worden. Der Regisseur nehme „originellerweise den Blickwinkel der Tiere“ ein (Tele 43, 31. Okt. 1988, S. 126), sei „ganz und gar aus ’Bärensicht“ gedreht“ (Blick Basel, 19. Okt. 1988, S. 41). Die Reduktion des Wesens des Bären auf das Visuelle mag sich einer unbedachten Konvention verdanken, die allerdings bei den Bären jeder Grundlage entbehrt. Bären sind kurzsichtig. Deshalb seien sie, so Annaud, auch so photogen. Ein Film für Bären müsste mit Gerüchen arbeiten: „Si j’avais voulu faire un film pour les ours, je l’aurais fait odorant ...“ (L’Hebdo 41, 13. Okt. 1988, S. 106)

Ebenso eingeleuchtet hat der Materialaufwand bei der Produktion des Filmes. Die Suche nach den geeigneten Tieren und nach einem geeigneten Drehort, der Stab der Mitarbeiter, die Arbeit der Bärentrainer, die 300 000 Meter belichteter Film sind jene Fakta, über die immer wieder geschrieben wurde. In dieser Faszination über einen technischen Apparat, der Natur simuliert, ist etwas von Denis Diderots „Paradox über den Schauspieler“ begriffen worden. Gefühle, die mit Gefühl gespielt werden, überzeugen nicht; Natur, die ergreifen soll, ist nicht natürlicherweise herzustellen. Derlei Erfahrungen müssen nicht erst auf dem Theater gemacht werden, der bürgerliche Alltag bietet dazu reiche Anschauung. Das weiss man, und es ist amüsant, es zu wissen. Allein beim Betrachten des Filmes vergisst man es.

Science

Was dem Zuschauer in dem Film L’Ours begegnet, ist Natur. Diesen Eindruck vermag auch nicht die Wissenschaft zu zerstreuen. Schon die Ausgangssituation ist für den Wildbiologen Dr. Hans Ulrich Roth eine Erfindung, die durch keinerlei Beobachtung zu belegen ist. Ein erwachsener männlicher Bär wird in keinem Falle sich eines verwaisten Kleinbären annehmen. Er stellt für die Jungen oft selber eine Bedrohung dar. Professor Hannes Sägesser, Direktor des Berner Wildparks, hält vieles im Film für ungewöhnlich, tadelt das Fleischfressen des fünf Monate alten Bären-Bébés und wertet das Verhalten des gehetzten Altbären, der Steine auf seine Verfolger hinunterwälzt, als lächerlich. Er lobt die Ehrlichkeit der Macher, „die keine reine Naturbeobachtungen vortäuschen, sondern sich als clevere Tiertrainer in die Karten schauen lassen und einen eindrucksvollen Film vorlegen.“ (Tele 43, 31. Okt. 1988, S. 128)

Jean-Jacques Annaud aber ist stolz darauf, dass ihr „Autoreninstinkt“ der wissenschaftlichen Überprüfung hat standhalten können: „Les savants avaient dit que jamais un gros ours ne supporterait la présence d’un bébé. A la fin du tournage, le monstre attendait le petiot et le protégeait (T Express, 21.Okt. 1988, S. 52)

„Ihr Schweizer liebt Tierfilme.“ Dieser Satz, von einer Italienerin gesagt, gibt mir, in seiner ganzen Ungerechtigkeit und pauschalen Sicht, zu denken. Der Tierfilm übt, das sei zugegeben, eine Attraktion auf mich aus. Was ihn von anderen Filmgenres unterscheidet, ist seine rudimentäre Psychologie, seine Übersichtlichkeit der Beziehungen, die gleichsam geometrische Anordnung der Handlung. Mit dieser Eindeutigkeit muss die Entspannung, die er mir bietet, Zusammenhängen. Der Tierfilm führt einem von sich weg. Aber er beschäftigt einen auch. In seiner Detailversessenheit, durch optische Nähe und durch die Hartnäckigkeit, mit der er am Objekt bleibt, bietet er eine Fülle von Daten. Der sachliche Kommentar bannt mögliche Gefühle des Ekels und der Abscheu; alles hat seine Funktion, alles hat einen Sinn. Die Monstrositäten aus dem Mikrobereich werden in die systematische Ordnung der Naturgeschichte eingebunden und verlieren dadurch alles Furchterregende. Dieses Pathos des Objektiven führt uns weg von jedem Entweder-Oder. Das macht den grünen Diskurs auch so anziehend. Die Frage, wie man leben soll, hat im Tierfilm keinen Platz.

Physiognomik

In der Strassenbahn kann es einem passieren, dass man eine Geschichte hört, ohne die Person, die sie erzählt, sehen zu können. Wenn mir solches widerfährt, versuche ich unwillkürlich, aufgrund der wenigen Daten, wie Geschlecht oder ungefähres Alter, die ich der Stimme entnehme, und der Geschichte selber, mir die Person vorzustellen. Die Spannung, mit der ich auf die Stimme horche, zielt darauf, mein Bild mit dem wirklichen Aussehen der Person zu konfrontieren, ist angetrieben von der Frage, wie die Person aussieht, die Derartiges erzählt. Auch beim Betrachten von Bildern bauen sich ähnliche Spannungsbögen auf. Man möchte identifizieren, was man sieht, man will wissen, was vorliegt, wie der Berg oder die Blume heisst, oder wo jene Landschaft sich befindet. Besonders lebendige Objekte bedürfen der narrativen Vermittlung des Sichtbaren mit dem „Eigentlichen“. Mein Interesse, mit welchem ich Fahndungsbilder betrachte, kann ich mir nur so erklären. Gesichtszüge, Haare, Pose, Miene, alles „lese“ ich ab nach Leben, nach dem Es-war-einmal. Die Gesichter, die in der italienischen Tagesschau gezeigt werden, suche ich immer dann, wenn ich den Sachverhalt nur ungefähr verstanden habe, nach Bedeutungen ab, nach eindeutigen Zeichen. Wer ist der Täter, wer das Opfer. Wer verdient mein Mitleid, und wer meine Abscheu? Oder: Wie konnte diese Person das tun? Vor dieser Dialektik von „innen“ und „aussen“ ist niemand gefeit, und es ist bestimmt keine Frage der Bildung oder des Anstandes, diese Bilderarbeit zu unterlassen. Allerdings braucht es Mut, die Irrtümer, die sich dabei notwendigerweise einstellen, sich und den anderen einzugestehen, etwa wie Georg Christoph Lichtenberg (1742 -1799): „Es ist aller Untersuchung wert, woher die Bilder stammen, die wir uns von Leuten formieren, die wir nie gesehen haben, die Formen von Strassen, die wir nie gesehen haben. An dem Gesicht, dass ich mir von General Lee gemacht habe, hat das doppelte E mehr Anteil als alle seine schlechten Taten, die mir zu Ohren gekommen sind.“

Man kann das ein Spiel nennen, das jedem Kriminalfilm zugrunde liegt, oder aber eine mühevolle Arbeit, sich mit den kulturellen Leistungen wie der Verstellung, der Lüge, des Zwanges zum Schein, der Sprache überhaupt, auseinandersetzen zu müssen. Die Utopie des Authentischen ist das Versprechen, mit diesem Zwang der Hermeneutik ein Ende zu machen - der Tierfilm ist ihre reale Einlösung. An die Stelle von Rede und Bild tritt das Verhalten.

Gérard Brach, Drehbuchautor von L’Ours: “C’est très stimulant d’avoir à trouver des comportements qui expriment, d’une manière claire et si possible émouvante ou amusante, les sentiments de personnages privés de la parole.” (Pressedossier zu L’Ours, S. 33)

Der Sprache kommt in L’Ours eine untergeordnete Bedeutung zu. Es herrscht das Verhalten, das sichtbare Geschehen. Er, Annaud, habe gelernt, als er in Kamerun an seinem ersten Spielfilm, La victoire en chantant (1976, später erhielt dieser Film den Titel Noirs et blancs en couleurs), arbeitete, dass das, was man gemeinhin Zivilisation nennt, nur ein Kleid sei, unter welchem das Säugetier stecke. Das Wesentliche verberge sich hinter der Sprache: „L’essentiel est sous ce vernis de mots et d’attitudes culturelles, et cet essentiel est commun à tous les êtres humains.“ (ebd., S. 19) Die Welt der Gefühle und der Emotionen verlaufe nicht über das Reden: „C’est par le comportement que se déclenchent les processus de l’amour et de l’amitié.“ (L’Hebdo Nr. 41, 13. Okt. 1988, S. 105) Verzicht auf „die Bequemlichkeiten des Dialogs“, Reduktion und Vereinfachung sind eine Rückkehr zur Macht der Bilder, wo sich die Spaltung in Sichtbares und „Gemeintes“ noch nicht vollzogen hat. Aber, so ist polemisch anzumerken, es weist auch in eine europäische Zukunft, wenn Annaud von der Magie einer internationalen Kommunikation spricht. Für ihn kann die Feststellung, er manipuliere die Gefühle der Zuschauer, kein Vorwurf sein. „Das ist ein Kompliment - darin sehe ich meine Aufgabe als Filmemacher.“ (Weltwoche, 20. Okt. 1988) Vor seinem ersten Spielfilm galt Annaud als einer der besten Werbefilmer. Gegen 500 Spots hat er realisiert.

Alfred Messerli
ist Publizist in Zürich. Unteranderem Herausgeber von Flausen im Kopf, Schweizer Autobiographien (Zürich: Unionsverlag).
(Stand: 2019)
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