HEINI ALPER

DER MILCHMANN - EIN HUNDSGEMEINES PORTRÄT (ALDO FLURI)

SELECTION CINEMA

Aldo Fluri geht eher auf ironische denn auf kritische Distanz zu seiner Heimat Horgen am Zürichsee. Kritik setzt Analyse voraus, und dies wäre wohl mehr die Sache eines eigentlichen Dokumentarfilms gewesen; der hergebrachte Heimatfilm ist und war schon immer (natürlich) ein Spielfilm - die dort gezeigten Heimaten sind nur als Inszenierung erhältlich. Da diese beiden Formen auch kaum zu finanzieren gewesen wären, hat Fluri aus der Not eine Tugend gemacht, und so ist Der Milchmann wie Fluri selbst sagt, ein Experimentalfilm geworden, ein „surrealistischer Heimatfilm“, gemäss Untertitel.

Sowohl auf der Bild- wie auf der Tonebene beginnt Der Milchmann in der Tat sehr heimatlich: lauschige Ecken und Plätzchen in der Gegend von (vielleicht) Horgen, teilweise wie (oder wirklich) von Postkarten abgefilmt, der Zürichsee überrascht mit einer ungeahnten Vielfalt filmisch möglicher Wasseroberflächen; dazu „Ach wie gut ist’s auf’m Land“ von Christian Kunert & Gerulf Pannach. Doch bald wird klar, dass eine agglomerierende Agglomerationsgemeinde kein Idyll ist. Ein Erzähler berichtet, wie er und nat. oec. Sensemann sowie Frau Wassermann — alte Neubausiedlung hin, neue Neubausiedlung her - mit diesem Tatbestand fertig werden. Dabei wechselnd dokumentarische Bildsequenzen mit teils tatsächlich surrealistischen Szenen („Uhrenmenschen“ auf dem Dorfplatz), Fotos und nächtlichen Zeitrafferaufnahmen; kontrastierend dazu setzt Fluri Ausschnitte aus einem Expeditionsfilm von 1925 - afrikanische Dorfidyllen aus Kolonialherrensicht.

Zusammengehalten wird der Film hauptsächlich durch den Text des Erzählers, der meist ironisch, manchmal witzig, gelegentlich allerdings auch eher angestrengt absurd, die verschiedenen Sequenzen in Klammern fasst. Fluri hat in einem Fernsehinterview gesagt, auch nach seiner Beobachtung würden manche Zuschauer eher von den Bildern, andere eher vom Text angesprochen. Nun, die zweite Kategorie wird mir vielleicht beipflichten, wenn ich meine, gerade am Text (des Erzählers) wäre noch einiges zu feilen gewesen - nicht so sehr inhaltlich, aber hinsichtlich Stil, Sprache und Interpretation. So hätte dem Erzähler jemand sagen müssen, dass Wortspiele eher besser wirken, wenn das entscheidende Wort nicht speziell betont oder gar künstlich abgesetzt wird. Auch will die doch schwerfällige Dialektfärbung des Erzähler-Textes nicht recht zum distanzierten Tonfall passen (aber das mag ein Stilmittel sein), und manche Sätze sind - Verzeihung - einfach ein Blödsinn.

Wenn Aldo Fluri (auch im erwähnten Interview) sagt, das Experiment dieses Films finde beim Zuschauer statt, na ja, dann bin ich jetzt vielleicht durchgefallen beim Experiment - obwohl ich meine, Der Milchmann sei ein absolut gelungenes hundsgemeines Porträt der Agglomerationsgemeinde Horgen am Zürichsee ... Und zum Schluss „Fluche, Seele, fluche“, wieder von Kunert & Pannach.

Heini Alper
geb. 1946, Mitglied der S-8 Gruppe Zürich und Mitarbeiter verschiedener Filmprojekte, arbeitet in der Dokumentation „Wort“ des Schweizer Fernsehens DRS.
(Stand: 2019)
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