HEINI ALPER

TAPEZ 36 - 15 CODE GORBA (STEFAN SCHWIETERT)

SELECTION CINEMA

Pierres Schuhnummer ist bestimmt irgendwo um 50, er selbst an die zwei Meter gross – ein mit überlangen Schritten durch Paris wandelnder Anachronismus. Die enormen, abstehenden, bezeichnenderweise stets roten Ohren klar gegen den Wind der Zeit gerichtet, verteilt er Flugblätter, klebt Plakate, agitiert wie damals, in jener grossen Zeit vor 20 Jahren, als es nebst anderem die Erbschuld in Indochina zu bewältigen galt. Doch es ist nicht mehr das Jahr 68, es ist 1988; deshalb ist Pierre jetzt in einer neuen Sache unterwegs - Go-Go-Gorbatschow, meint man beinahe ihn rufen zu hören, wenn er sich aufmacht, den Leuten das Neue Denken nahezubringen, sie für den Geist der Perestroika zu gewinnen. Dabei übersieht er zunächst, dass die alten Kampfformen für die heutige Zeit nicht taugen. Niemand nimmt ihn ernst, die Kleinbürger auf der Strasse nicht, und auch seine intellektuellen Freunde nicht. So wird er mit der Zeit doch stutzig, als er nirgends ankommt; er gerät ins Träumen, sieht sich an der Spitze eines Marsches durch Paris, dieweil die roten Fahnen flattern, dass es eine Art hat. Doch die Wirklichkeit hat ihn rasch wieder, das Mädchenrudel, das er im Geist eben noch anführte, verulkt ihn bloss - der Kampf scheint verloren. Aber noch einmal überkommt es ihn, macht er sich zu einer (wahrscheinlich letzten) Aktion auf: Er benutzt die ihm berufshalber zur Verfügung stehende Lautsprecheranlage der Metro für einen flammenden Aufruf an die wartenden Fahrgäste. Ob er damit die zeitgemässe Agitationsform gefunden hat?

Durchaus humorvoll stellt Stefan Schwietert mit seinem Film einmal mehr die Frage, was von den Idealen der 68er geblieben sei; die Antworten mag allerdings jede(r) Betroffene je nach Werdegang selber finden. Pierre - übrigens höchst gelungen verkörpert durch Christophe Salengo - ist uns da keine Hilfe. Filmisch gefällt Tapez. 36 durch gute Schauspielerleistungen auch in den Nebenrollen, witzige Inszenierungsdetails und solide handwerkliche Qualität.

Heini Alper
geb. 1946, Mitglied der S-8 Gruppe Zürich und Mitarbeiter verschiedener Filmprojekte, arbeitet in der Dokumentation „Wort“ des Schweizer Fernsehens DRS.
(Stand: 2019)
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