HEINI ALPER

LA NUIT DE L’ÉCLUSIER (FRANZ RICKENBACH)

SELECTION CINEMA

Die Tochter verlässt frustriert das Haus und ist nicht aufzuhalten; im Amt wird renoviert und der Computer eingeführt; der Überforderte wird befördert, und zwar ins Archiv, während der alte Archivar zwangspensioniert wird - alles in allem die besten Voraussetzungen für Charles Belloz’ Lebenskrise und letztlich Grund genug, um anarchisch auszubrechen oder, aus der Sicht der andern, durchzudrehen.

Nun, Lebenskrisen kennt jeder, das ist ein Thema, und so, wie es hier angelegt ist, eine Chance zur Auseinandersetzung mit kleinbürgerlicher Befindlichkeit. Daraus lässt sich auch gewiss ein Film machen; vielleicht sogar ein witziger, was dann sicher keine leichte Aufgabe ist. Aber in einem solchen Film alle gags realisieren, die einem einfallen, und diese teilweise auch noch mehrmals wiederholen, das muss schief gehen, auch wenn die gags noch so schön gefilmt und, für sich genom men, gelegentlich wirklich gut sind. Wenn die Tochter bei ihrer Flucht sich durch einen Schwarm kinderwagenschiebender Mütter kämpfen muss, ist das in der Tat lustig und bedeutungsschwanger - ist sie etwa selbst schwanger? Wir werden es nie erfahren. Trotzdem - noch zwei, drei oder auch vier solche Einfälle, wie die Szene, in der Charles das Archiv unter Wasser setzt, das wäre schön gewesen. Statt dessen erfahren wir jetzt (endlich) bis zum Überdruss, dass Beamte Trottel sind, die dauernd über Putzeimer, Bürostühle und Aktenstapel stolpern und sich wahrscheinlich gewohnheitsmässig die Schuhe verkehrt anziehen.

Es wäre jedoch ungerecht, den Film ausschliesslich auf dieser Ebene zu fixieren, denn es gibt darin auch eine Reihe schöner Momente, wo zum Beispiel Michel Robin Gelegenheit hat, seiner Figur Charakter zu geben, Charles Verzweiflung spürbar zu machen; oder wo Magali Noël die hilflos mitleidende Ehefrau mit gleicher Überzeugungskraft spielt wie Alain Cuny den verschrobenen, aber gewissermassen unter Verschluss gereiften Hüter der Aktenberge. Aber gerade da ist es dann doppelt schade, wenn etwa Charles gleich darauf zum zwölften Mal hinfällt oder etwas umstösst und so die eigentliche thematische Substanz zum Vorwand für immer weitere, zunehmend ermüdende „lustige“ Einfälle gerät. Sollte etwa um jeden Preis Psychologisierungsverdacht zugunsten von Unterhaltungseffekten vermieden werden? Aber dann doch nicht ganz, da ja der „autoritäre Vater“ (Sigfrit Steiner) letztlich trotzdem noch ins Spiel kommt? Zugegeben, es mag in vielen und zumal in Schweizer Filmen bisher viel Tiefgang und wenig zu lachen gegeben haben. Hier aber wurde das thematische und schauspielerische Potential einem Zuviel an Einfällen geopfert und letztlich von diesen geradezu erdrückt. Hinzu kommt, dass vor allem gegen den Schluss die Dramaturgie sich recht verwirrend präsentiert, etwa so, wie wir uns wohl Charles Gemütsverfassung vorzustellen haben. Die Idee (wenn es eine ist), das innere Chaos von Figuren in eine chaotische Dramaturgie umzusetzen, ist jedoch ziemlich fragwürdig. Daher bleibt denn Verschiedenes einfach rätselhaft, so zum Beispiel der Einfall, Charles vom alten Archivar - zusammen mit den Papierschiffchen aus Archiv-Akten - auf eine mysteriöse Bootsfahrt schicken zu lassen. Vielleicht (noch) ein Symbol? Und wenn ja, wofür?

Heini Alper
geb. 1946, Mitglied der S-8 Gruppe Zürich und Mitarbeiter verschiedener Filmprojekte, arbeitet in der Dokumentation „Wort“ des Schweizer Fernsehens DRS.
(Stand: 2019)
[© cinemabuch – seit über 60 Jahren mit Beiträgen zum Schweizer Film  ]