Das Ende muss nicht das Ende bedeuten. Das gilt wörtlich für die Fernsehserien von heute, die Staffel für Staffel produziert werden und bei denen die nächste Episode ab DVD bzw. per Download jederzeit konsumierbar ist. Sie verheissen «ununterbrochene Glückseligkeit» (so Matthias Uhlmann in seinem Momentaufnahme-Text hier im vorliegenden Band); immer weniger werden wir als Zuschauer allein gelassen mit einem beunruhigenden, ungelösten, gar rätselhaften Ende, die Figuren leben und lieben weiter, die Fortführung beantwortet (fast) alle offen gebliebenen Fragen, früher oder später. Im Kino indes gibt es noch «THE END», «FIN», den Abspann als Verabschiedungsritual, das scheue Blinzeln des Publikums, das sich aus dem Dunkel ins Licht des realen Lebens tastet. Der Künstler Daniel Bosshart hat für uns diesen Moment der Rückkehr in den Alltag in seinen subtilen und anrührenden, zugleich witzigen sowie oft melancholischen Zeichnungen in einen Bildessay gefasst. Das Ende eines Films hallt nach und lässt nicht los, über das Verlassen des Kinosaals hinaus. Was bedeutet es da, wenn ein Regisseur – wie Peter Luisi in seinem neuesten Spielfilm, zu dem er sich in einem Interview mit Senta van de Weetering äussert – nicht nur ein Ende anbietet, sondern deren drei, in denen der Verlauf der Ereignisse in ganz unterschiedlichen Resultaten mündet? Das Film-Ende wird im vorliegenden CINEMA-Jahrbuch, seinem 59. Jahrgang, narratologisch, film- und kinogeschichtlich, ästhetisch und auf technische Fragestellungen hin untersucht. Der Schriftsteller Catalin Dorian Florescu, der 2011 den Schweizer Buchpreis gewonnen hat, ein passionierter Filmrezipient, hat eine Art Typologie von Film-Enden erstellt – ihm zufolge gibt es nicht nur das versöhnliche, das pessimistische, das optimistische, das verschlüsselte, das missratene oder das ultrakurze Ende, sondern auch das trotzige, das taube, das geflüsterte, das beiläufige oder das persönliche Ende. Mit dem Ende eines Films können markante ästhetische Signale gesetzt, Erzählkonventionen unterwandert oder umspielt werden. Wie das Schwarzbild als Scharnier zwischen imaginärem diegetischen und realem Kinoraum fungiert, behandelt Simon Koenig, während Gina Bucher der Frage nachgeht, was die digitale Zeitenwende für das Film-Ende bedeutet. Verschiedene Genres und Epochen weisen Konventionen auf, was den Schluss betrifft, und wie immer können diese erfüllt oder verweigert werden. Und beides kann derart missglücken, dass das Ende rückwirkend gar den Film ruiniert. Opernhafte Ansätze, bühnenhaft entfaltete Schlussinszenierungen macht Hans J. Wulff in seinem Beitrag über versöhnliche oder aber tragische Enden in Filmen aus, und Johannes Binotto zeigt auf, wie insbesondere das Happy End von bestimmten Regisseuren nicht im üblichen Sinne eingesetzt wird, sondern zum Krisensymptom mutiert. Besonderen, überraschenden Film-Enden, der Geschichte und der Wirkung sogenannter «Twist Endings», widmet sich Willem Strank. Das Spannungsverhältnis zwischen realer Historie und filmischer Narration und Verdichtung, die Grenzen zwischen Film und Geschichtsvermittlung macht Rasmus Greiner zum Gegenstand seiner Erörterung, während Ulrike Hanstein und Patrick Straumann filmische Visionen von Apokalypsen thematisieren und die Aporie beleuchten, die diese Filme ihrer Produktion auferlegen. Die Darstellung von Zeit und ihre Intensivierung bzw. (scheinbare) Aufhebung oder Implosion im Zeitmedium Film wird aber auch in Filmen deutlich, die sich mit Alzheimer-Demenz befassen, wie Felix Lieb in seinem Beitrag vorführt. Nachdem das CINEMA-Jahrbuch auch in diesem Jahr dank Ihrer Hilfe als interessierte Leserin bzw. interessierter Leser und mit der finanziellen Unterstützung des Bundesamts für Kultur weiter erscheinen kann, muss das Thema «Ende» der vorliegenden Ausgabe Nr. 59 in dem Sinne nicht das Ende bedeuten. Das Ende kann auch immer der Anfang von etwas Neuem sein. Wir nehmen das als Aufforderung und gehen mit Zuversicht in das nächste CINEMA-Jahr. Besuchen Sie uns auch auf www.cinemabuch.ch, wo Sie das Jahr hindurch aktuelle Filmbesprechungen sowie das umfangreiche Filmkritiken-Archiv der Sélection des CINEMA-Jahrbuchs finden können. Für die Redaktion BETTINA SPOERRI & SENTA VAN DE WEETERING

CINEMA #59
ENDE