Die «Annelie» ist eine heruntergekommene Pension in München, bevölkert von Alkis, Junkies, Zuhältern und allerlei Kleinkriminellen – eine provisorische Unterkunft für «unvermittelbare» Sozialfälle. Da sind zum Beispiel Yogi, der es als Zuhälter zu nichts gebracht hat, weil er keine Frauen schlagen kann; Stefan, der Neonazi, der Gruppenzwang und Gewalt nicht ausstehen kann; Helmut, der Wachmann, der in seiner Freizeit ausschliesslich Ritterrüstungen trägt; oder Hedi, aus reicher Schweizer Familie, mit ihrem Hanf-Schrebergarten auf dem Dach. Sie und weitere originelle und meist tragische Existenzen leben in der «Annelie» fast wie eine kleine Familie, im guten wie im schlechten Sinne. Ständig im Streit wegen mehr oder weniger wichtigen Belangen, sich gegenseitig schamlos ausnutzend, hält man, wenn es darauf ankommt, trotzdem zusammen.
Antej Farac, der jahrelang mit der «Annelie» den Innenhof teilte, erzählt die Geschichte des Ortes zum Zeitpunkt seiner Auflösung. 2012 lässt die Stadt München die Pension schliessen, die Bewohner verlieren ihr Zuhause, nicht aber ohne noch einmal gründlich die Sau rauszulassen. Der Film ist einerseits ein dokumentarisches Porträt der untersten Gesellschaftsschicht, die oft aus dem Blickfeld verbannt oder um die ein Bogen gemacht wird, andererseits aber auch eine Fantasie des Widerstands gegen die Hartz-IV-Gesellschaft, in der es sich nur sehr schlecht leben lässt, wenn man sich nicht an die aufgezwungenen Spielregeln halten will.
Die Fantasie ist glaubwürdig, weil authentisch. Die «Annelie» gab es wirklich, und ihre Bewohnerinnen und Bewohner spielen sich zum grössten Teil selbst. Farac oszilliert scheinbar mühelos zwischen der Realität der Hausbewohner, vorgestellt in kleinen Episoden, dem langen und schmerzhaft anzusehenden Zerfall des Erzählers und Junkies Max, dargestellt von Georg Friedrich, und dem letzten Aufbäumen der Gemeinschaft hin zu einem letzten, grandios illegalen Innenhofkonzert. Die Inszenierung all dessen zeugt von einem kleinen, aber kreativ eingesetzten Budget, mit wilden Kamerafahrten und grossspurigen Sound- und Bildeffekten, die bestens zur Gonzo-Ästhetik des porträtierten Milieus passen.
Annelie ist mit seiner Radikalität und Derbheit gleichsam das direkte Gegenteil eines dominanten Typus des Schweizer Films, der es allem und jedem Recht machen will und sich dann darüber wundert, als fad empfunden zu werden. Ähnlich den Bewohnern der «Annelie», deren Leben die Kehrseite der gewinnorientierten Gesellschaft vorführt, verweigert sich der gleichnamige Film erfolgreich den meisten Konventionen des sozial engagierten Filmemachens. Ein wichtiger, vielleicht etwas gar unzimperlicher Film, der auch nicht allen gefallen wird, doch vielleicht auch ein Film, den wir verdient haben.