Zum Zeitpunkt des Gesprächs mit Peter Luisi, im Juni 2013, ist Boys Are Us gerade ins Kino gekommen, der Film Schweizer Helden ist in Arbeit und die Sketch-Show Twist steht kurz vor dem Start im Schweizer Fernsehen. Boys Are Us ist der Film, um dessentwillen ich mich mit Peter Luisi zum Thema «Ende» unterhalten will. Die Handlung dreht sich um die sechzehnjährige Mia, die von ihrem letzten Freund tief verletzt worden ist. Auch ihre ältere Schwester Laura hat mit Männern schmerzhafte Erfahrungen gemacht. Sie überzeugt Mia davon, dass sie über ihre Verletzungen am besten hinwegkommt, wenn sie sich rächt. Nicht unbedingt an demjenigen Jungen, der sie verletzt hat, sondern an irgendeinem, stellvertretend für alle Männer. So suchen sich die beiden auf einer Internetplattform für Singles einen aus, der ihrer Meinung nach wie ein «Loser» und damit verletzlich aussieht. Mia soll ihm den Kopf verdrehen und ihn nachher so herzlos sitzen lassen, wie sie selbst verlassen worden ist. Der Auserwählte heisst Timo, ist Rekrut wider Willen, durchaus sympathisch, und er trägt eigene Liebeswunden mit sich herum. Timo und Mia kommen sich plangemäss näher, doch ganz entgegen den Plänen entscheidet sich Mia schliesslich, Timo doch nicht sitzen zu lassen, sondern mit ihm in die Ferien zu reisen. Da greift Laura ein und erzählt Timo, dass Mia die ganze Zeit nur mit ihm gespielt habe. Als Timo sie stellt und Mia gesteht, muss er entscheiden, wie er auf diese Verletzung reagieren soll. Peter Luisis Boys Are Us beantwortet die Frage nicht, sondern zeigt drei verschiedene Möglichkeiten von Reaktionsmustern auf. Der dreifache Schluss ist eine Konsequenz aus der Erzählstruktur des gesamten Films: Timo wird von drei verschiedenen Darstellern gespielt. Die Szenen zwischen Mia und Timo werden mehrfach gezeigt, alles verläuft dabei jeweils gleich, nur der Schauspieler wechselt. Die kleinen, alltäglichen Entscheidungen – welche Schüssel für die Cornflakes, welcher Weg, welches Getränk – treffen sie stets gleich, ist es ja eine Figur und eine Handlung. Bis auf die letzte Szene, in der drei sehr unterschiedliche Entschlüsse gefasst werden – mit guten oder schlimmen Folgen.
Senta VAN DE WEETERING: Boys Are Us erzählt eine eigentlich einfache Geschichte kompliziert. Warum hast du dich für diese Erzählweise entschieden?
Peter LUISI: Die Erzählstruktur stand schon vor der Ausarbeitung der Geschichte fest. Und weil die Struktur so komplex ist, schien es mir sinnvoll, die Geschichte nicht auch noch kompliziert zu machen.
Ich nehme an, noch vor der Erzählstruktur war dir das Thema klar.
Ja. Zwei eigentlich. Mich beschäftigten die Themen der emotionalen Gewalt und der Eigenverantwortung. Liebe wird in Filmen ja normalerweise als etwas ausschliesslich Wünschenswertes dargestellt. Mir war jedoch wichtig zu zeigen, dass sie auch Verletzungen mit sich bringt, dass hier eine Form von Gewalt ausgeübt wird, die man allerdings oft nicht als solche wahrnimmt. Die Frage ist dann: Wie reagiert man auf das, was einem geschehen ist? Welche Entscheidungen trifft man und kann man treffen? Gibt man die Verletzung weiter – rächt man sich also – oder frisst man alles in sich hinein und zerstört sich selbst? Oder kann man den Teufelskreis beenden? Die drei Männer im Film stehen für diese drei Möglichkeiten. Damit sind wir dann bei der Eigenverantwortung und gleichzeitig bei der Struktur des Films.
Es ging also nicht darum, dass genau diese Geschichte unbedingt erzählt werden musste?
Doch. Aber die Art und Weise, wie sie erzählt wird, ist Teil der Geschichte.
Das Thema betrifft nicht nur Teenager – liebende Menschen können in jedem Alter verletzt werden. Warum lässt du die Geschichte unter Jugendlichen spielen?
Bei Teenagern ist es die erste Liebe, die sie erleben. Die Gefühle sind in diesem Alter besonders stark, man hat noch keine Erfahrungen damit und lernt erst mit den Emotionen und auch mit den Verletzungen umzugehen. Mias ältere Schwester Laura hat beschlossen, gar keine Gefühle mehr an sich herankommen zu lassen und rät dies auch ihrer Schwester. Für Mia allerdings ist das keine Lösung und sie sucht nach anderen Möglichkeiten.
Die dreifache Besetzung von Timo nützt du für drei verschiedene Enden.
Ja, die Timos erleben das Gleiche, es sind aber verschiedene Typen. Beim Sehen erlebt man sie fast als drei Personen, weil sie so unterschiedliche Typen sind.
War von Anfang an klar, wer welche Entscheidung trifft?
Ich wusste, dass Peter Girsberger, der am meisten Screentime hat, richtig entscheiden wird. Bei den anderen beiden war es nicht klar.
Es gibt also ein Richtig und ein Falsch bei den Entscheidungen. Heisst das, du verstehst den Ausgang nicht als offenes Ende?
Nein, nicht im Sinne von «choose your ending» – davon bin ich kein Fan. Manchmal macht es zwar Sinn, aber ich bin der Meinung, dass ein Erzähler wissen muss, was er erzählt, und das dann auch zu Ende erzählen soll. Im Fall von Boys Are Us ist es auf jeden Fall kein offenes Ende mit drei gleichwertigen Möglichkeiten. Ich mache eine konkrete Aussage: Es gibt drei verschiedene Möglichkeiten, und du kannst wählen.
Du hast vorher gesagt, es gibt innerhalb von diesem einen Ende eine «richtige» Entscheidung. Ich bin stutzig geworden, weil ich in einem Interview mit Dir gelesen habe, ein guter Film sollte nicht moralisch erzählen, sondern dem Zuschauer Raum lassen, selbst Schlüsse zu ziehen.
Nun, in diesem Fall scheint mir ganz offensichtlich, was die richtige Entscheidung ist. Natürlich soll es einem nicht als moralische Geschichte entgegentreten; der Zuschauer soll selbst darauf kommen, dass er den Kreis von Gewalt durchbrechen kann, dass man dem ein Ende setzen muss. Hoffentlich zieht der Zuschauer diesen Schluss, aber es liegt an ihm, ob er das tut oder nicht tut.
Du führst einen aufs Glatteis, weil das Thema Selbstmord in Szenen diskutiert wird, in denen nur Peter Girsbergers Timo vorkommt, die anderen nicht. Ist das ein Spiel mit den Erwartungen der Zuschauer?
Ja, durchaus. Allerdings sind diese Szenen auch die Backstory der anderen; es ist ja die gleiche Figur. Der Timo von Nicola Perot und derjenige von Rafael Mörgeli sind genauso fragil.
Es ist immer wieder spannend, wenn man einen fertigen Film kennt und dann hört, welche Schauspieler im Vorfeld mal für eine Rolle vorgesehen waren, die sie dann nicht bekommen oder übernommen haben. Bei Dir kann man quasi live beobachten, wie sich Szenen durch andere Darsteller verändern. Entspricht das Ergebnis deinen Vorstellungen?
Beim Schreiben hatte ich eine Person im Kopf. Auch als Regisseur habe ich die Schauspieler nicht angewiesen, unterschiedlich zu spielen. Aber jeder Schauspieler bringt seine eigene Persönlichkeit mit. Ich muss zugeben, dass ich unterschätzt habe, wie schwierig es ist, emotional nachzuvollziehen, dass es sich um eine Figur handelt, wenn man drei verschiedene Schauspieler sieht, auch wenn man es intellektuell weiss.
Hast du das schon beim Schneiden bemerkt, oder ist dir das erst durch die Publikumsreaktionen klar geworden?
Ich habe es selbst gemerkt. – Wenn ich die Geschichte mit einem einzigen Schauspieler erzählt hätte, wäre man vor allem am Schluss des Films emotional mehr bei ihm. Denn eigentlich ist Timos Figur am häufigsten auf der Leinwand zu sehen, wenn man die Screentime aller drei Schauspieler zusammenzählt. Aber durch die Anlage des Films hat man das Gefühl, Mia am meisten zu sehen, und lebt gefühlsmässig eher mit ihr mit.
Wenn ich an deine anderen Filme denke, würde ich sagen, am Schluss von Der Sandmann steht eine Botschaft. Bei Verflixt verliebt und Love Made Easy sehe ich die nicht so ganz. Habe ich da etwas verpasst?
Bei Verflixt verliebt sicher nicht (lacht). Der Film ist reine Unterhaltung, und ich finde, die hat durchaus ihren Wert. Dass sich das Publikum an dem Film gefreut hat, hat wiederum mich gefreut; das ist auch ein Zweck. Für mich war es die Lust an der filmischen Übung: Man sieht nur, was gefilmt wird. Das gibt extrem viel vor, und ich habe die verschiedensten Ideen in den Film gemurkst. Bei Love Made Easy könnte man schon sagen, dass der Film eine Botschaft hat. Dort ging es mir um die Erweiterung der romantischen Liebe. Darum, dass die Kollegen ihren Freund so sehr lieben, dass auch sie gewinnen, wenn er die Frau bekommt, um die sie alle für ihn gekämpft haben (lacht wieder). Na ja, ich weiss nicht, ob das eine Botschaft ist.
Zurück zum Thema Ende: Bei Verflixt und Love ist der Schluss ja quasi vorgegeben.
Ja, das liegt am Genre der romantischen Komödie: Sie finden zusammen. Hier liegt die Freude für das Publikum nicht bei einem überraschenden Ende, sondern darin, zuzuschauen, wie der Film zum erwarteten Schluss kommt. Eigentlich weiss man ja auch bei einem Disney-Film, dass die Liebenden sich finden, oder bei James Bond, dass er überlebt. Trotzdem hat man Angst, dass sie jetzt abstürzen. Es geht darum, möglichst unterhaltsam zum Ziel zu kommen. Das ist ein anderes Vorgehen als bei Boys und Sandmann.
Was stand bei Sandmann am Anfang?
Da kamen verschiedene Ideen zusammen. Ich hatte an der Filmschule einen Kurzfilm mit einem Mann, der Sand verliert, gemacht und fand das Bild filmisch sehr schön. Aber ein Bild reicht natürlich nicht für einen Langspielfilm. Dann kam als Thema die Frage hinzu, was zwischen einem Menschen und seinem Potenzial steht. Warum ist jemand nicht, was er vielleicht sein könnte?
Hast du schon während der Arbeit an einem Film eine Vorstellung davon, was das letzte Bild, der letzte Dialog sein wird, oder ergibt sich das erst aus dem, was unmittelbar vorher war?
Meistens habe ich ein Bild im Kopf, aber das ist offen für Änderungen. Der Schluss muss sich ja durch die Geschichte ergeben. Das ändert sich jeweils verschiedene Male im Arbeitsprozess.
Ich nehme an, das geschieht auch mit dem Anfang?
Ja, genau. Nicht immer zwar, aber oft.
Du machst ja nicht nur Filme, sondern du schaust sie auch. Gibt es für dich einen Lieblingsschluss?
Eigentlich zwei: Eternal Sunshine of the Spotless Mind und The Sixth Sense. Ich mag es, wenn der Schluss einen überrascht und alles, was man vorher gedacht hat, in ein neues Licht rückt. Der Anfang von Eternal Sunshine ist spannend; die Geschichte fängt an, sie verlieben sich – denkt man. Und zuletzt erkennt man, dass es gar nicht der Anfang der Geschichte war, sondern das Ende; sie lernen sich nochmals kennen. Es ist das versteckte Happy End des Schlusses. Der Film ist natürlich schon vorher immer unterhaltend, aber wenn es das Ende dann schafft, mich zu überraschen und alles, was man gesehen hat, in ein neues Licht zu rücken, finde ich das super. The Sixth Sense funktioniert da ähnlich. Man fragt sich, warum man vorher nicht gemerkt hat, dass die Hauptfigur tot ist – es ist rückblickend völlig logisch. Krass. Es funktioniert, weil der Junge erst in der Mitte des Filmes sagt, dass er Tote sieht. Mit der Möglichkeit rechnet man einfach nicht – man geht nun mal davon aus, dass die Figuren, die man in einem Film sieht, leben. Anscheinend hat es Leute gegeben, die den Schluss von The Sixth Sense nicht verstanden haben.
Es soll ja auch Kritiker gegeben haben, die das Ende von Boys Are Us nicht verstanden haben. (Wir lachen beide und wechseln dann das Thema.) Du schreibst deine eigenen Drehbücher, produzierst, führst Regie und schneidest deine Filme selbst. An wie vielen Projekten arbeitest du derzeit?
Nur zwei. Für das Schweizer Fernsehen schreibe ich gemeinsam mit Patrick Karpiczenko Sketche für eine neue Sendung, Twist. Anschliessend werden wir Schweizer Helden filmen. Und dann werde ich mit dem Schreiben eines neuen Drehbuchs beginnen. Mein Ziel ist es, an möglichst wenigen Projekten gleichzeitig und vor allem nicht am gleichen Tag an verschiedenen Dingen zu arbeiten. Die Gefahr ist sonst gross, dass man in ein anderes Projekt flüchtet, wenn Probleme auftauchen. Wenn ich aber eine Weile intensiv an etwas gearbeitet habe, dann hilft es mir, eine Pause einzulegen.
Wann hast du eigentlich angefangen, das Drehbuch von Schweizer Helden zu schreiben?
Ich denke immer, es sei das erste Drehbuch gewesen, das ich geschrieben habe. Genau genommen stimmt das allerdings nicht; Love Made Easy war das erste. Schweizer Helden war das erste Drehbuch, das ich umzusetzen versuchte. Das erste Treatment stammt von 2001. Es ist mir damals nicht gelungen, Geld für die Verfilmung zu finden. Damit war dann das Projekt «Drehbuch» abgeschlossen. Mindestens diese Version.
Das heisst, es ist nicht die erste Version, die du jetzt verfilmst?
Nein, gar nicht. Ich habe dieses spezifische Drehbuch – nicht übertrieben – etwa dreissig Mal umgeschrieben. Alle zwei Jahre habe ich nochmals mindestens drei Fassungen geschrieben. Ich wollte es immer wieder verfilmen, habe mit Produzenten daran gearbeitet, mit Ko-Autoren, dann wieder allein. Nein, das ist sicher, sicher nicht die Fassung, die ich zuerst geschrieben habe. Und ich finde, es ist sehr viel besser geworden.
Änderst du deine Drehbücher während des Drehs noch weiter?
Wenn es sein muss. Idealerweise möchte ich jedoch am Buch nicht mehr viel ändern. Es verändert sich genug durch die Schauspieler, die es umsetzen.
Als Regisseur respektierst du also die Entscheidungen, die du als Drehbuchautor getroffen hast?
Ja, ich habe gelernt, dass es so besser ist. Als Drehbuchautor hat man Zeit für seine Entscheidungen. Während des Drehens entsteht manchmal das Gefühl, es wäre vielleicht doch besser, etwas anders zu machen als vorgesehen. Einige Male habe ich das getan – und habe dann beim Schneiden gemerkt, dass ich besser dem Drehbuch gefolgt wäre. Beim Schreiben hatte ich mehr Zeit als beim Drehen und die Überlegungen waren richtig gewesen. Natürlich sind manche Anpassungen beim Dreh nötig. Aber es ist gefährlich, auf dem Set wichtige Sachen umzustellen, die sollte man in Ruhe vorher bestimmt haben.
Schneidest du deine Filme alleine?
Meistens. Wenn eine erste Fassung fertig ist oder ich nicht weiterkomme, ziehe ich jemanden bei, der berät oder auch selbst noch etwas schneidet. Aber etwa 90 Prozent schneide ich allein.
Fühlt sich das nicht einsam an, nachdem du vorher mit so vielen Leuten an einem Film gearbeitet hast?
Ja, das ist eine einsame Arbeit. Und für alle anderen, die daran beteiligt waren, ist die Arbeit an dem Film längst vorbei, sie sind in anderen Projekten engagiert und ich bin immer noch dran. Ein Spielfilmregisseur braucht extreme Ausdauer und muss sich lange Zeit für das Gleiche begeistern können. Ich kenne Leute, die jeweils nach zwei Monaten wieder etwas anderes machen, sonst langweilen sie sich. Das verstehe ich, aber ich funktioniere zum Glück nicht so.
Wann erlebst du einen Film als fertig?
Wenn die Mischung fertig ist. Also dann, wenn ich nichts mehr daran machen kann. Nach dem Schnitt kommen für Musik, Sounddesign und Grafiken nochmals neue Mitarbeitende dazu, die den Film sehr stark beeinflussen können. – Musik falsch eingesetzt, kann den besten Film ruinieren; oder richtig eingesetzt, ihn noch besser machen. Da muss man immer noch voll dabei sein.
Wenn der Film für dich fertig ist, fängt er für das Publikum überhaupt erst zu existieren an. Die meisten Zuschauer haben bis zu dem Zeitpunkt ja noch nicht einmal wahrgenommen, dass da ein Film im Entstehen ist. Du bist dann nochmals voll engagiert dabei, den Film ins Kino zu bringen.
Zu entscheiden, an welchen Festivals der Film nach Möglichkeit gezeigt werden soll, wie das Poster aussieht, wie man ihn auswerten will und ihn dabei zu begleiten ist ein neuer Job. Ich finde, das gehört dazu, auch wenn ich es weniger gerne mache als die Arbeit am Film. Die Situation ist anders als bei den Schritten des Entstehungsprozesses. Zwar kann das Drehbuch abgeschlossen sein, aber solange es nicht gedreht und geschnitten ist, ist es eigentlich trotzdem nichts. Der Film hingegen besteht dann, unabhängig davon, wo und wie er läuft.
Dann kommen wir zum Schluss nochmals auf die Gegenwart zu sprechen: Im Moment schreibst du an Sketchen für das Fernsehen. Die sind in Bezug auf das Ende ja wahrscheinlich eine nochmals andere Sache als ein Film.