BETTINA SPOERRI

NACHTZUG NACH LISSABON (BILLE AUGUST)

SELECTION CINEMA

Grosse Spielfilm-Koproduktionen mit Schweizer Beteiligung wie diese sind immer noch eher selten. C-Films arbeitete mit deutschen Produzenten und einer internationalen Starbesetzung zusammen, um den Erfolgsroman des Schriftstellers Pascal Mercier (alias Peter Bieri) – bis heute sind allein im deutschsprachigen Raum über zwei Millionen Exemplare verkauft – fürs grosse Kino zu adaptieren. Jeremy Irons spielt den Berner Lehrer Raimund Gregorius, der durch die Lektüre eines geheimnisvollen Buches alles stehen und liegen lässt, um in Lissabon den Lebensspuren des Autors nachzuforschen, dessen Zeilen ihn so fesseln. Immer tiefer lässt er sich von Amadeu de Prados Worten in die Vergangenheit hineinziehen und erfährt von einer schwierigen Dreiecksgeschichte in den gefährlichen Zeiten der Salazar-Diktatur. Er lernt Augenzeugen kennen und freundet sich mit der Augenärztin Mariana an, deren Onkel als Widerstandskämpfer mit Amadeu de Prado Kontakt hatte.

Bille Augusts Spielfilm kann man insofern eine «Literaturverfilmung» nennen, als er der Struktur des Buches ziemlich genau folgt, bis hinein in die Abfolge der Montage von Gegenwartshandlung und Rückblenden – aber die zeitweilige Rückkehr Gregorius’ nach Bern wird ausgespart. In Bille Augusts Film tritt alle paar Minuten ein bekannter Schauspieler auf, mit Charlotte Rampling als Schwester von Ama­deu de Prado, Christopher Lee als Pater Bortolomeo – einst der strenge Lehrer von Ama­­deu – oder Lena Olin als Amadeus grosse Liebe wartet Nachtzug nach Lissabon gar mit einem erstklassigen Darstellerensemble auf. Und doch bleibt die Geschichte im Film seltsam leblos. Die existenziellen Dimensionen – die le­bens­bedrohliche Situation der Widerstandskämpfer und der Terror des Geheim­dienstes, aber auch die Verwirrung, ja: die Verzweiflung von Gregorius auf seiner Suche nach einem sinnvolleren, erfüllteren Leben, als er es bisher geführt hat – werden nicht spürbar, sondern vielmehr sorgsam gemieden und geglättet, bis an die Grenze des Edelkitsches. Das ist bei dieser – innerhalb der neueren Schweizer Literatur – komplexen, spannenden, aber auch anspruchsvollen Vorlage mit durchaus politischen Dimensionen eine verpasste Chance.

Lissabon tritt als schön ausgeleuchtete Kulisse auf, wie ein Freilichtmuseum – den Kontrast dazu bietet Bern als öde, regnerische Stadt, wo die hohen Brücken aber zum Selbst­mord(versuch) einladen. Hier hält Gregorius eine junge Portugiesin zu Filmbeginn davon ab, hinunter zu springen, und lässt sich anschliessend von ihr in seinen Unterricht begleiten. Dies sind die echtesten Momente im Film; sie lassen ahnen, was für eine Gratwanderung August stattdessen hätte wagen können, hinein in den Verlust von Gewissheiten und Routine.

Bettina Spoerri
*1968, Dr. phil., studierte in Zürich, Berlin und Paris Germanistik, Philosophie, Theater- und Filmwissenschaften, danach Dozentin an Universitäten, der ETH, an der F&F. Begann 1998, als freie Filmkritikerin zu arbeiten und war Redaktorin (Film/Theater/Literatur) bei der NZZ. Mitglied Auswahlkommission FIFF 2010–12, Internat. Jury Fantoche 2013, mehrere Jahre VS-Mitglied der Filmjournalisten, Mitglied bei der Schweizer Filmakademie. Freie Schriftstellerin und Leiterin des Aargauer Literaturhauses. CINEMA-Redaktorin 2010–2017, heute Mitglied des CINEMA-Vorstands. www.seismograf.ch.
(Stand: 2021)
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